Metadaten

Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 1. Abhandlung): Vom gesunden Menschenverstand: vorgetragen am 29. Oktober 1994 — Heidelberg: Winter, 1995

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48175#0024
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
18

Albrecht Dihle

sehen Lebens versagt. Erziehung besteht demnach einmal in der
Ausbildung aller Formen sprachlicher Kommunikation, außerdem
aber auch darin, daß die längst bekannten moralischen Wahrheiten
in möglichst einprägsamer Formulierung neu vermittelt werden.
So sollen die Sprichwörter, in denen sich die Lebensklugheit von
Generationen niedergeschlagen hat, gesammelt und womöglich in
eleganterer und darum einprägsamer Formulierung weitergegeben
werden. Das ist der von der Sophistik aufgegrifene Gedanke einer
Legitimierung moralischer Normen durch ihr Alter. Ausdrücklich
bezeichnet Isokrates seine Kunst, Sentenzen zu formulieren, als
Fortsetzung der moralisch-didaktischen Poesie früherer Zeit43, und
seither stellte man in großem Umfang zu pädagogischen Zwecken
Sentenzensammlungen aus Poesie und Prosaliteratur zusammen.
Rhetorik als Mittel der Psychagogie soll also nicht nur zum Erfolg
im forensischen oder politischen Leben verhelfen, sondern auch
der moralischen Erziehung dienen. Noch Fronto, der Rhetorik-
lehrer des römischen Kaisers Mark Aurel im 2. Jh. n.C., und Igna-
tius von Loyola vertraten diesen Grundsatz44.
Die beiden derart gegensätzlichen Programme sind in der Ge-
schichte der Erziehung immer wieder miteinander verbunden wor-
den - wohl ein Zeichen dafür, daß beide ein gutes Stück Wahrheit
einschließen. Die in der Spätantike für lange Zeit kanonisierten,
aber in ähnlicher Zusammenstellung schon früh nachweisbaren
sog. Sieben Freien Künste umfassen drei Disziplinen zur sprach-
lich-argumentativen Schulung und vier mathematische Wissen-
schaften. Sachwissen im engeren Sinn hatte in diesem Kanon nur
als Material sprachlicher Ausbildung seinen Platz45.
43 Isocr. ad Nicocl. 3; 6ff.
44 Fronto, de eloqu. p. 145 van der Horst = p. 152 Naber; vgl. P. Hadot, La citadelle
Interieure, Paris 1992, 275f.; zur älteren Tradition vgl. Polos bei L. Rader-
macher, Artium Scriptores p. 114; Anaxim. Rhet. ad Alex. 1439a 3 ff. Ignatius’
Rückgriff auf diese Tradition nachgewiesen bei P. Rabbow, Seelenführung,
München 1954. Die Techniken der Psychagogie und Meditation, die in der hel-
lenistisch-römischen Ethik eine bedeutende Rolle spielten (I. Hadot, Seneca
und die griechisch-römische Tradition der Seelenleitung, Berlin 1969), zeigen
weitgehende Übereinstimmung mit den Anweisungen, welche die gleichzei-
tige Rhetorik als Kunst der Überredung gab.
45 Zur Frühgeschichte der „Sieben Freien Künste“ H. Fuchs, Reallex. f. Ant. u.
Christent. 5, 1962, 365ff., sowie A. Stückelberger, Senecas 88. Brief, Heidelberg
1965 und I. Hadot, Arts liberaux et Philosophie dans la pensee antique, Paris
1984.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften