Vom gesunden Menschenverstand
19
Das ganz vom Vertrauen in den gleichbleibenden gesunden
Menschenverstand getragene Erziehungssystem des Isokrates und
seiner Nachfolger blieb nicht ohne Einfluß auf die Philosophie, die
als Medium höherer Bildung mit der Rhetorik jahrhundertelang in
Wettbewerb stand. Deutlich wird das schon bei Aristoteles. Er
beginnt die Geschichte eines zu erörternden Problems meist
damit, daß er es nach Inhalt und Benennung so beschreibt, wie es
der allgemeine Sprachgebrauch vorsieht. Die wissenschaftlich-
philosophische Tradition, in die er sich stets einzuordnen bemüht,
beginnt für ihn also bei der Vulgärmeinung. In seiner „Rhetorik“
bemerkt Aristoteles beiläufig, „das Alte scheint mir der Natur nahe
zu sein“. Dementsprechend werden in der späteren rhetorischen
Lehre vom gerichtlichen Beweis Natur und Herkommen geradezu
als Einheit aufgefaßt46.
Im Felde der Ethik, Politik und Rhetorik, wo die Vorgänge unter
den Menschen sich nur häufig, aber nicht immer oder notwendi-
gerweise so abspielen, wie es in einem gegebenen Fall zutrifft,
nimmt Aristoteles die gängigen Meinungen, die endoxa, besonders
ernst. Er betrachtet sie hier nicht nur als Ausgangspunkt philo-
sophischer Erörterung, sondern findet die eigene Überlegung
bestätigt, wenn sie mit der Mehrheit solcher Meinungen oder den
ernsthafteren unter ihnen übereinstimmt. Dazu paßt die von ihm
eingeführte und durchgehaltene Unterscheidung zwischen theore-
tischem und praktischem Intellekt. Der erste richtet sich auf die
Erfassung gleichbleibender, beweisbarer Wahrheiten, der andere
beurteilt die immer wieder anderen Situationen, die ein Handeln
des Menschen erfordern47.
Kaum ein antiker Autor zitiert so viele Sprichwörter wie Aristo-
teles, meist zur Bekräftigung eigener Resultate. Er und einige
seiner Schüler haben über dieses Thema sogar Abhandlungen ver-
faßt48. Das paßt zu der schon erwähnten Unterscheidung zwischen
46 Aristot. Rhet. 1387 a 16; Hermogenes, progymn. 12 Rabe.
47 Meinung oder Vermutung (doxa) und praktischer Verstand (phronesis) - also
nicht Wissen (episteme) und theoretischer Verstand (sophia) - haben dort ihre
Funktion, wo die Dinge „auch anders sein können“ (E. N. 1140b 20ff.; 1141b 14;
1142b. 23 ff.) oder nur „meistens“ sich so verhalten wie in einem gegebenen Fall
(E. N. 1084b 21). Gerade dort aber verdienen die Ansichten, die endoxa der
Erfahrenen, Verständigen und Alten ebenso viel Aufmerksamkeit wie sonst die
strengen Beweisgänge (1143b 13; 1145b 2ff.; dazu G. M. Most, in: D. J. Fur-
ley/A. Nehamas (edd.) Aristotle’s Rhetoric, Princeton 1994, 167ff.).
48 Die Berufung auf Sprichwörter zur Bekräftigung der eigenen Überlegung etwa
E. N. 1159b 31 oder 1169b 6, als Argument vor Gericht Rhet. 1376a 2ff. Abhand-
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Das ganz vom Vertrauen in den gleichbleibenden gesunden
Menschenverstand getragene Erziehungssystem des Isokrates und
seiner Nachfolger blieb nicht ohne Einfluß auf die Philosophie, die
als Medium höherer Bildung mit der Rhetorik jahrhundertelang in
Wettbewerb stand. Deutlich wird das schon bei Aristoteles. Er
beginnt die Geschichte eines zu erörternden Problems meist
damit, daß er es nach Inhalt und Benennung so beschreibt, wie es
der allgemeine Sprachgebrauch vorsieht. Die wissenschaftlich-
philosophische Tradition, in die er sich stets einzuordnen bemüht,
beginnt für ihn also bei der Vulgärmeinung. In seiner „Rhetorik“
bemerkt Aristoteles beiläufig, „das Alte scheint mir der Natur nahe
zu sein“. Dementsprechend werden in der späteren rhetorischen
Lehre vom gerichtlichen Beweis Natur und Herkommen geradezu
als Einheit aufgefaßt46.
Im Felde der Ethik, Politik und Rhetorik, wo die Vorgänge unter
den Menschen sich nur häufig, aber nicht immer oder notwendi-
gerweise so abspielen, wie es in einem gegebenen Fall zutrifft,
nimmt Aristoteles die gängigen Meinungen, die endoxa, besonders
ernst. Er betrachtet sie hier nicht nur als Ausgangspunkt philo-
sophischer Erörterung, sondern findet die eigene Überlegung
bestätigt, wenn sie mit der Mehrheit solcher Meinungen oder den
ernsthafteren unter ihnen übereinstimmt. Dazu paßt die von ihm
eingeführte und durchgehaltene Unterscheidung zwischen theore-
tischem und praktischem Intellekt. Der erste richtet sich auf die
Erfassung gleichbleibender, beweisbarer Wahrheiten, der andere
beurteilt die immer wieder anderen Situationen, die ein Handeln
des Menschen erfordern47.
Kaum ein antiker Autor zitiert so viele Sprichwörter wie Aristo-
teles, meist zur Bekräftigung eigener Resultate. Er und einige
seiner Schüler haben über dieses Thema sogar Abhandlungen ver-
faßt48. Das paßt zu der schon erwähnten Unterscheidung zwischen
46 Aristot. Rhet. 1387 a 16; Hermogenes, progymn. 12 Rabe.
47 Meinung oder Vermutung (doxa) und praktischer Verstand (phronesis) - also
nicht Wissen (episteme) und theoretischer Verstand (sophia) - haben dort ihre
Funktion, wo die Dinge „auch anders sein können“ (E. N. 1140b 20ff.; 1141b 14;
1142b. 23 ff.) oder nur „meistens“ sich so verhalten wie in einem gegebenen Fall
(E. N. 1084b 21). Gerade dort aber verdienen die Ansichten, die endoxa der
Erfahrenen, Verständigen und Alten ebenso viel Aufmerksamkeit wie sonst die
strengen Beweisgänge (1143b 13; 1145b 2ff.; dazu G. M. Most, in: D. J. Fur-
ley/A. Nehamas (edd.) Aristotle’s Rhetoric, Princeton 1994, 167ff.).
48 Die Berufung auf Sprichwörter zur Bekräftigung der eigenen Überlegung etwa
E. N. 1159b 31 oder 1169b 6, als Argument vor Gericht Rhet. 1376a 2ff. Abhand-