Metadaten

Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 1. Abhandlung): Vom gesunden Menschenverstand: vorgetragen am 29. Oktober 1994 — Heidelberg: Winter, 1995

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48175#0026
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
20

Albrecht Dihle

den Gegenständen des Wissens im strengen Sinn, die unveränder-
lich und darum berechenbar sind, und den Begebenheiten unter
den Menschen, über die man immer nur Wahrscheinliches aus-
sagen kann. Wahrscheinlichkeit aber bemißt sich an der gesell-
schaftlichen Erfahrung, wie sie in Sprichwörtern zum Ausdruck
kommt. Damit ist den allgemein anerkannten Grundsätzen, der
doxa tön pollön, ein wichtiger Platz zugewiesen, und deshalb greift
Aristoteles auch in der Erörterung richtiger und verkehrter Verhal-
tensweisen gern auf die Kategorien Lob und Tadel, also auf das
vom Herkommen bestimmte Urteil der Mitwelt, zurück49.
In den mehr oder weniger straff organisierten Philosophen-
schulen, die am Beginn der hellenistischen Periode entstanden,
wurde die Philosophie zur ars vitae, zu der in drei Teile geglieder-
ten Spezialwissenschaft vom rechten Leben: Der philosophisch
Gebildete soll über ein wenn nicht detailliertes, so doch in den
Grundzügen gesichertes Wissen von der Welt und der Stellung des
Menschen in ihr verfügen und sich darüber in kontrollierter, ein-
deutiger Sprache und Argumentation verständigen können. Die
beiden hierzu erforderlichen Disziplinen, Dialektik und Physik,
setzen ihn dann instand, die Regeln eines naturgemäßen Verhal-
tens, also eine zu Lebensglück und Lebenserfüllung führende
Ethik, abzuleiten. Die Philosophie wurde damit auf eine durch
begrenztes, aber gesichertes Wissen gelenkte Lebenskunst, eine
techne peri ton bion, beschränkt50. Das widersprach beidem,
sowohl der aristotelischen Konzeption der Philosophie als einer
allseitigen Erfassung der Wirklichkeit51, als auch der platonischen

lungen über Sprichwörter bezeugt für Aristoteles (Diog. Laert. 5,21) sowie die
Peripatetiker Theophrast (Diog. Laert. 5,45), Dikaiarch (fr. 100 Wehrli) und
Klearch (fr. 63-83 Wehrli).
49 Z. B. E. N. 1109b 31 ff.
50 Frühstes Zeugnis Xenokrates fr. 1 Heinze; zum Ganzen A. M. loppolo, Ari-
stone di Chio e il stoicismo antico, Napoli 1980, 59ff Daß das Publikum die
Philosophen als Lehrer des rechten Lebens beim Wort nahm, zeigen die bei
Diogenes Laertios erhaltenen Fragmente des Antigonos von Karystos, eines
vielseitigen Literaten aus dem 3. Jh. v.C. (U. v. Wilamowitz-Moellendorff,
Antigones von Karystos, Berlin 1881). Ohne irgendein besonderes Interesse an
der Philosophie und ihren verschiedenen Lehren zu zeigen, gab er in seinem
Buch eingehende Berichte über die in Athen tätigen philosophischen Lehrer
und ihre Lebensgewohnheiten (A. Dihle, Studien zur griechischen Biographie,
2. Auf!., Göttingen 1970, 107ff.). Die Autorität des professionellen Philo-
sophen, auch im öffentlichen Leben, zeigt die berühmte Athener Philosophen-
gesandtschaft an den römischen Senat i. J. 155 v.C.
51 Met. 1004 a 3 u. ö.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften