22
Albrecht Dihle
Die Ablehnung wissenschaftlicher Forschung zugunsten des
Schuldogmas, anfangs ein Kennzeichen der neuen Philosophie des
Hellenismus, konnte man jedoch im Wettbewerb der Schulen und
im Zeitalter besonderer Blüte der Wissenschaften nicht durch-
halten. So entfaltete sich in fast allen Schulen eine Pflege der Wis-
senschaft, und nicht wenige Vertreter einzelner Wissenschaften
ließen sich in ihrer Fragestellung und Sichtweise von schulphilo-
sophischen Lehren bestimmen. Ebensowenig konnte es aber auch
mit einer einfachen Abwertung des ungeschulten Verstandes und
seiner zur Tradition verfestigten Einsichten sein Bewenden haben.
Im Rahmen des rhetorischen Unterrichtes hatte nämlich, wie wir
sahen, die Vulgärethik ein Maß an Formalisierung erlangt, das
hohen intellektuellen Ansprüchen genügte. Außerdem, so ver-
sichert uns Sextus Empiricus, ein Vertreter der skeptischen Philo-
sophie im 2. Jh. n.C., können auch dogmatische Philosophen
gewisse, für ihr System notwendige Grundannahmen nur mit der
traditionellen Meinung der Menschen begründen, so etwa die
Annahme der Existenz der Gottheit56.
Es ist, glaube ich, ein besonderer Vorzug der hellenistischen
Philosophie, daß ihre Vertreter im Gefolge des Aristoteles sich bei
aller dogmatischen Festlegung Mühe gaben, nicht nur die Wissen-
schaften in ihre Lehrsysteme zu integrieren, sondern auch die Lei-
stungen des Alltagsverstandes ausdrücklich zu berücksichtigen.
Der Grund dafür ist sicherlich darin zu suchen, daß diese Philo-
sophie als Anweisung für das rechte Leben verstanden wurde, also
auf Praktikabilität angelegt war. In der Tat vermochte sie deshalb
bei aller Konzentration auf die Vervollkommnung des Indivi-
duums über Jahrhunderte auch die Gesellschaft und damit das
öffentliche Leben nachhaltig zu humanisieren. Der Gefahr einer
Ideologisierung in dem Sinn, daß politische Machthaber sich bei
Maßnahmen gegen Recht, Sitte und Herkommen sich auf angeb-
lich unumstößliche Resultate wissenschaftlich-philosophischer
Forschung hätten berufen können, ist diese Philosophie schon
wegen der fortdauernden Diskussion zwischen den Schulen auch
nie erlegen. Nicht erst in neuerer und neuster Zeit hat sich gezeigt,
daß die konsequente Anwendung von Theorien auf das Leben
gerade dort Unmenschlichkeit bewirkt, wo um der Reinheit der
Theorie willen der Alltagsverstand mit seinen überkommenen
Wertvorstellungen und Handlungsmustern zurückgewiesen wird.
56
Adv. math. 9, 31; 35 u. a.
Albrecht Dihle
Die Ablehnung wissenschaftlicher Forschung zugunsten des
Schuldogmas, anfangs ein Kennzeichen der neuen Philosophie des
Hellenismus, konnte man jedoch im Wettbewerb der Schulen und
im Zeitalter besonderer Blüte der Wissenschaften nicht durch-
halten. So entfaltete sich in fast allen Schulen eine Pflege der Wis-
senschaft, und nicht wenige Vertreter einzelner Wissenschaften
ließen sich in ihrer Fragestellung und Sichtweise von schulphilo-
sophischen Lehren bestimmen. Ebensowenig konnte es aber auch
mit einer einfachen Abwertung des ungeschulten Verstandes und
seiner zur Tradition verfestigten Einsichten sein Bewenden haben.
Im Rahmen des rhetorischen Unterrichtes hatte nämlich, wie wir
sahen, die Vulgärethik ein Maß an Formalisierung erlangt, das
hohen intellektuellen Ansprüchen genügte. Außerdem, so ver-
sichert uns Sextus Empiricus, ein Vertreter der skeptischen Philo-
sophie im 2. Jh. n.C., können auch dogmatische Philosophen
gewisse, für ihr System notwendige Grundannahmen nur mit der
traditionellen Meinung der Menschen begründen, so etwa die
Annahme der Existenz der Gottheit56.
Es ist, glaube ich, ein besonderer Vorzug der hellenistischen
Philosophie, daß ihre Vertreter im Gefolge des Aristoteles sich bei
aller dogmatischen Festlegung Mühe gaben, nicht nur die Wissen-
schaften in ihre Lehrsysteme zu integrieren, sondern auch die Lei-
stungen des Alltagsverstandes ausdrücklich zu berücksichtigen.
Der Grund dafür ist sicherlich darin zu suchen, daß diese Philo-
sophie als Anweisung für das rechte Leben verstanden wurde, also
auf Praktikabilität angelegt war. In der Tat vermochte sie deshalb
bei aller Konzentration auf die Vervollkommnung des Indivi-
duums über Jahrhunderte auch die Gesellschaft und damit das
öffentliche Leben nachhaltig zu humanisieren. Der Gefahr einer
Ideologisierung in dem Sinn, daß politische Machthaber sich bei
Maßnahmen gegen Recht, Sitte und Herkommen sich auf angeb-
lich unumstößliche Resultate wissenschaftlich-philosophischer
Forschung hätten berufen können, ist diese Philosophie schon
wegen der fortdauernden Diskussion zwischen den Schulen auch
nie erlegen. Nicht erst in neuerer und neuster Zeit hat sich gezeigt,
daß die konsequente Anwendung von Theorien auf das Leben
gerade dort Unmenschlichkeit bewirkt, wo um der Reinheit der
Theorie willen der Alltagsverstand mit seinen überkommenen
Wertvorstellungen und Handlungsmustern zurückgewiesen wird.
56
Adv. math. 9, 31; 35 u. a.