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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 1. Abhandlung): Vom gesunden Menschenverstand: vorgetragen am 29. Oktober 1994 — Heidelberg: Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48175#0030
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Albrecht Dihle

Wo nun sicheres Wissen mit allen dialektischen Mitteln als
unerreichbar erwiesen und nur der Grad der Wahrscheinlichkeit
einer Meinung oder Aussage möglichst genau bestimmt werden
sollte, sah man sich für das moralische oder professionelle Handeln
auf die verfügbare Erfahrung gewiesen. Wie nach Meinung der
Skeptiker der Arzt auf die strikt nicht immer beweisbare Erfahrung
seiner Vorgänger und der Redner auf den eingebürgerten, von der
Logik eines grammatischen Systems unberührten Sprachgebrauch
zurückgreifen muß, so der moralisch Handelnde auf die bewährten
Normen und Erfahrungen seiner Mitwelt. Er wird sich also der
Kategorien des Alltagsverstandes bedienen, und diese stammen,
so ein erhaltener Text der skeptischen Schule, aus dem Herkom-
men oder aus Vereinbarungen unter den Menschen60.
Elemente des Skeptizismus lassen sich jedoch nicht nur in der
skeptischen Schule des 3. Jh. und ihrer Fortsetzung im 1. Jh. v.C.
sowie in der skeptischen Phase der Schule Platons nachweisen. Wir
finden sie gelegentlich schon in der Sophistik, später dann vor
allem bei den Kynikern61. Diese leiteten daraus freilich die Vor-
schrift ab, in allen Lebenslagen unmittelbar den Impulsen der
Natur zu folgen und sich um die Meinungen oder Konventionen
der Mitmenschen ebensowenig zu kümmern wie um die Resultate
wissenschaftlicher oder philosphischer Forschung.
Aber auch Epikureer und Stoiker, also Verfechter dogmati-
scher, von der Alltagsmeinung streng abgegrenzter Lehren, be-
mühten sich darum, diese zu ihrem System in Beziehung zu setzen,
und zwar auf verschiedene Weise.
Länger als die Stoiker hatten die Epikureer daran festgehalten,
daß wissenschaftliche Forschung für die moralische Erziehung des
Menschen unnütz sei. Nun beruhten die Lehren Epikurs für das
rechte Leben wesentlich auf der Atomtheorie als umfassender
Erklärung der Welt. Seine Anhänger waren darum bereit, auch ver-
schiedene Deutungen desselben Naturphänomens nebeneinander
60 Sext. Emp. Pyrrh. hyp. 1,37; 146; adv. math. 2,31.
61 Daß alle sozialen Regeln ihren Ursprung in Meinungen, nicht im Wissen
haben, war die Auffassung des Antisthenes (fr. 39/40 Decleva-Caizzi), jede
Meinung aber konnte auch der Lehre radikaler Kyniker nur den typhös, die von
der Natur ablenkende Einbildung der Menschen, befördern (Monimos b. Diog.
Laert. 6,83). Die Auffassung, daß sich soziale oder moralische Regeln nicht aus
der Natur herleiten lassen, findet sich auch bei den Kyrenaikern (Aristipp. fr.
229 Mannebach).
 
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