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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 1. Abhandlung): Vom gesunden Menschenverstand: vorgetragen am 29. Oktober 1994 — Heidelberg: Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48175#0032
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Albrecht Dihle

higte. Es ging durch Katastrophen und soziale Zwänge verloren
und muß nun durch die Philosophie systematisch wiedergewonnen
werden. Splitter dieses Urwissens haben sich erhalten, vor allem in
der Weisheit exotischer Völker, der „Philosophie der Barbaren“,
aber auch in der Spruchweisheit der Griechen.
Dieses Motiv zeugt von dem Respekt, mit dem die Griechen seit
archaischer Zeit den in ferne Vergangenheit zurückreichenden
Traditionen ihrer östlichen Nachbarn und Lehrmeister begegne-
ten. Platon etwa bringt ihn im „Timaios“ zum Ausdruck, und schon
Aristoteles deutete in einem verlorenen Buch die Überlieferungen
der Magier, der modischen Priesterkaste, als Reste einer Urphilo-
sophie. Megasthenes, der Gesandte König Seleukos’ I am Hof des
Candragupta am mittleren Ganges, war der Meinung, daß die grie-
chische Philosophie keine kosmologische Lehre hervorgebracht
habe, die nicht schon bei indischen Brahmanen oder jüdischen
Schriftgelehrten zu lesen sei. In der Auseinandersetzung mit reli-
giösen Bewegungen aus dem Osten, mit Judentum und Christen-
tum, sollte das Motiv der „barbarischen Philosophie“ eine bedeu-
tende Rolle spielen68.
Chrysipp, der bedeutende Vertreter stoischer Orthodoxie,
stellte wohl aus ähnlichen Motiven eine kommentierte Sammlung
von Sprichwörtern zusammen69. Offenbar hoffte er in der Über-
einstimmung mit hergebrachten und anerkannten Normen eine
zusätzliche Bestätigung des Schuldogmas zu finden. Dazu spielte
die psychagogische Wirkung wohlformulierter Sentenzen eine
wichtige Rolle in der Seelsorge und Seelenleitung hellenistischer
Philosophie. Sprichwörter sind wie Mückenstiche, sagt Seneca:
Man merkt nicht, wenn man gestochen wird, aber nachher beginnt
es zu jucken70.
68 Plat. Tim. 22 B: Die Griechen sind Kinder im Vergleich zu den Ägyptern;
ferner Aristoteles fr. 13; 35 Rose.; zur „Philosophie der Barbaren“ äußerte sich
der Stoiker Poseidonios (fr. 47 u. 300 Edelstein/Kidd). Megasthenes FGH 715 F
3 wird von dem Christen Clemens von Alexandrien zitiert. Es gab in helleni-
stisch-römischer Zeit eine lange, immer wieder von Neuem aufgenommene
Tradition, nach der die griechischen Weisen und Philosophen älterer Zeit wie
Pythagoras, Demokrit oder Platon ihr Wissen von Reisen in den östlichen Län-
dern mitbrachten (H. Dörrie, Romanitas et Christianitas = FS Waszink,
Amsterdam 1973, 99 ff.). Sogar Sokrates, von dem man wußte, daß er Athen nie
verlassen hatte, soll von einem Inder belehrt worden sein (Aristox. fr. 53
Wehrli).
60 SFV 2,16; zu Aristoteles’ Vorliebe für Sprichwörter o. Anm. 48.
70 Sen. ep. 94,41, ein Zitat nach Phaidon von Elis.
 
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