Vom gesunden Menschenverstand
27
Mit der Lehre von einem in Resten erhaltenen Urwissen der
Menschheit konnte man gerade in hergebrachten, allgemein
bekannten und anerkannten Meinungen die Wahrheit entdecken.
Das stimmte zu der stoischen Überzeugung, daß es einen natür-
lichen Verhaltenskodex für alle Menschen als Teilhaber an der
göttlichen Weltvernunft gebe. Dieser Kodex manifestiere sich
trotz aller Verbiegung der Natur des empirischen Menschen immer
noch in einigen angeborenen Denk- und Vorstellungsweisen. Die
sehr spezifischen Sitten einzelner Völker konnten die Stoiker dann
damit erklären, daß solche Verhaltensregeln als Zusätze zum allge-
mein verbindlichen Naturgesetz zu verstehen seien und auf Grund
unterschiedlicher Lebensverhältnisse erforderlich werden71.
Die Neuplatoniker haben schließlich den Versuch unternom-
men, die verschiedenen Arten moralischer Verhaltensregeln in ein
hierarchisch gegliedertes System zu bringen. Porphyrios kennt drei
stufenweise angeordnete Gruppen von Verhaltensnormen. Zuun-
terst liegen die aus dem Herkommen stammenden rechtlichen und
sittlichen Konventionen der verschiedenen Länder und Völker. Sie
entsprechen den immer wieder neuen Anforderungen im Zusam-
menleben der Menschen und sind häufigem Wandel unterworfen.
Darüber steht der nomos tes thnetes physeös, also die Verhaltens-
regeln, die von der Natur gegeben sind und die der Mensch als
Lebewesen zum eigenen Wohl einzuhalten hat. An oberster Stelle
steht der theios nomos, der jedem Menschen als Teil seiner logike
psyche eingepflanzt und der Garant ihrer Unsterblichkeit ist.
Anders als das Naturgesetz kann man ihn nicht beschreibend
objektivieren, sondern nur durch Selbstprüfung erfahren. Aber
wo ein Menschenleben mit sophia und sophrosyne, mit Einsicht
und Selbstzucht geführt wird, tritt er für jedermann in Erschei-
nung.
Man kann die Einzelheiten dieses Systems unschwer auf meh-
rere in der Spätantike verfügbaren Schultraditionen zurückführen.
Hier soll nur gezeigt werden, wie auch in der letzten Phase antiker
Philosophie die Frage nach dem Verhältnis zwischen philo-
sophisch-wissenschaftlicher Einsicht und den Normen der Vulgär-
ethik lebendig blieb. Der Neuplatoniker lamblich äußerte sogar die
Ansicht, daß die Methode der Dialektik, in der platonischen Philo-
sophie von zentraler Bedeutung, von den Menschen bereits in den
täglichen Verrichtungen nach allgemeinen Meinungen und Vor-
71
SVF 3,316; 323; vgl. 3,218.
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Mit der Lehre von einem in Resten erhaltenen Urwissen der
Menschheit konnte man gerade in hergebrachten, allgemein
bekannten und anerkannten Meinungen die Wahrheit entdecken.
Das stimmte zu der stoischen Überzeugung, daß es einen natür-
lichen Verhaltenskodex für alle Menschen als Teilhaber an der
göttlichen Weltvernunft gebe. Dieser Kodex manifestiere sich
trotz aller Verbiegung der Natur des empirischen Menschen immer
noch in einigen angeborenen Denk- und Vorstellungsweisen. Die
sehr spezifischen Sitten einzelner Völker konnten die Stoiker dann
damit erklären, daß solche Verhaltensregeln als Zusätze zum allge-
mein verbindlichen Naturgesetz zu verstehen seien und auf Grund
unterschiedlicher Lebensverhältnisse erforderlich werden71.
Die Neuplatoniker haben schließlich den Versuch unternom-
men, die verschiedenen Arten moralischer Verhaltensregeln in ein
hierarchisch gegliedertes System zu bringen. Porphyrios kennt drei
stufenweise angeordnete Gruppen von Verhaltensnormen. Zuun-
terst liegen die aus dem Herkommen stammenden rechtlichen und
sittlichen Konventionen der verschiedenen Länder und Völker. Sie
entsprechen den immer wieder neuen Anforderungen im Zusam-
menleben der Menschen und sind häufigem Wandel unterworfen.
Darüber steht der nomos tes thnetes physeös, also die Verhaltens-
regeln, die von der Natur gegeben sind und die der Mensch als
Lebewesen zum eigenen Wohl einzuhalten hat. An oberster Stelle
steht der theios nomos, der jedem Menschen als Teil seiner logike
psyche eingepflanzt und der Garant ihrer Unsterblichkeit ist.
Anders als das Naturgesetz kann man ihn nicht beschreibend
objektivieren, sondern nur durch Selbstprüfung erfahren. Aber
wo ein Menschenleben mit sophia und sophrosyne, mit Einsicht
und Selbstzucht geführt wird, tritt er für jedermann in Erschei-
nung.
Man kann die Einzelheiten dieses Systems unschwer auf meh-
rere in der Spätantike verfügbaren Schultraditionen zurückführen.
Hier soll nur gezeigt werden, wie auch in der letzten Phase antiker
Philosophie die Frage nach dem Verhältnis zwischen philo-
sophisch-wissenschaftlicher Einsicht und den Normen der Vulgär-
ethik lebendig blieb. Der Neuplatoniker lamblich äußerte sogar die
Ansicht, daß die Methode der Dialektik, in der platonischen Philo-
sophie von zentraler Bedeutung, von den Menschen bereits in den
täglichen Verrichtungen nach allgemeinen Meinungen und Vor-
71
SVF 3,316; 323; vgl. 3,218.