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Albrecht Dihle
Stellungen stets von Natur aus geübt und erst sekundär auf die
Lehre von der Natur und der Gottheit übertragen werde72.
Die in nachklassischer Zeit überwiegend dogmatische Philo-
sophie ließ sich demnach zu den Erfahrungsregeln, mit denen der
Alltagsverstand operiert, durchaus verbinden. Doch dem sokrati-
schen Gedanken, daß jedes ehrliche und kontrollierte Bemühen
um Wahrheit gerade wegen seiner prinzipiellen Unabgeschlossen-
heit die Menschennatur im Laufe eines Lebens ihrer sittlichen
Bestimmung näher bringe, bot das wenig Raum. Darum unter-
schied man im nachklassischen Griechisch streng zwischen dem
philosophos, der das rechte Leben auf der Basis eines Schuldogmas
lehrte, und dem philologos, dem bloßen Gelehrten, der sich ohne
besondere sittliche Zielsetzung um den Erwerb von Wissen
bemühte73. Gerade der Zweite aber sah sich häufig gezwungen, der
Vulgärmeinung zu widersprechen. Bezeichnenderweise haftete
darum auch nur an ihm, dem Fachgelehrten, nicht aber am Philo-
sophen, dem Lehrer der Lebenskunst, der Ruf sprichwörtlicher
Lebensuntüchtigkeit74. Seneca - wie nach ihm Nietzsche -
bedauerte den Einbruch der Gelehrsamkeit in die Philosophie als
eine Verwandlung der Philosophie in Philologie, und ähnliches
steht bei dem Stoiker Epiktet im 2. Jh. n.C.75. Umgekehrt gab es
Geographen, Architekten oder Mediziner, also professionelle
Spezialisten, die für ihr Metier die erzieherische Wirkung und
damit die Würde der Philosophie in Anspruch nahmen76. Sie pro-
klamierten demnach Philologie, gelehrtes Fachwissen und seinen
Erwerb, als Philosophie, als Lebenskunst. Das sagt alles über das
ungleiche Sozialprestige der beiden Tätigkeiten aus. Mathemati-
kern, also den Vertretern der strengsten Wissenschaft, billigte man
in platonischer Tradition den Philosophentitel zuweilen ausdrück-
72 Die neuplatonische Lehre vom Nomos Porphyr, ad Marc. 25 ff., die Verbindung
der Dialektik mit den koinai doxai kai ennoiai lambl. ap. Stob. Anth. 2 p. 19f.
Wachsmuth/Hense.
73 A. Dihle, o. Anm. 41, 205ff.
74 Z. B. Epict. diss. 1,11,39; 4,1.138; Marc. Ant. 1,16,4; gleichbedeutend mit philo-
logos wird in solchem Zusammenhang auch scholastikos gebraucht.
75 Sen. ep. 108,23; Epict. diss. 2,4.
76 Neben dem Arzt Galen, dem Agrarschriftsteller Columella oder dem Architek-
ten Vitruv ist hier besonders auf den großen Gelehrten Ptolemaios zu verwei-
sen, der die Astrologie nach der Art der Philosophie zu behandeln ankündigt
(Tetrabibi. 1,1,1). Ähnlich auch die Einleitung zum astrologischen Traktat des
Vettius Valens aus dem 2. Jh. n.C.
Albrecht Dihle
Stellungen stets von Natur aus geübt und erst sekundär auf die
Lehre von der Natur und der Gottheit übertragen werde72.
Die in nachklassischer Zeit überwiegend dogmatische Philo-
sophie ließ sich demnach zu den Erfahrungsregeln, mit denen der
Alltagsverstand operiert, durchaus verbinden. Doch dem sokrati-
schen Gedanken, daß jedes ehrliche und kontrollierte Bemühen
um Wahrheit gerade wegen seiner prinzipiellen Unabgeschlossen-
heit die Menschennatur im Laufe eines Lebens ihrer sittlichen
Bestimmung näher bringe, bot das wenig Raum. Darum unter-
schied man im nachklassischen Griechisch streng zwischen dem
philosophos, der das rechte Leben auf der Basis eines Schuldogmas
lehrte, und dem philologos, dem bloßen Gelehrten, der sich ohne
besondere sittliche Zielsetzung um den Erwerb von Wissen
bemühte73. Gerade der Zweite aber sah sich häufig gezwungen, der
Vulgärmeinung zu widersprechen. Bezeichnenderweise haftete
darum auch nur an ihm, dem Fachgelehrten, nicht aber am Philo-
sophen, dem Lehrer der Lebenskunst, der Ruf sprichwörtlicher
Lebensuntüchtigkeit74. Seneca - wie nach ihm Nietzsche -
bedauerte den Einbruch der Gelehrsamkeit in die Philosophie als
eine Verwandlung der Philosophie in Philologie, und ähnliches
steht bei dem Stoiker Epiktet im 2. Jh. n.C.75. Umgekehrt gab es
Geographen, Architekten oder Mediziner, also professionelle
Spezialisten, die für ihr Metier die erzieherische Wirkung und
damit die Würde der Philosophie in Anspruch nahmen76. Sie pro-
klamierten demnach Philologie, gelehrtes Fachwissen und seinen
Erwerb, als Philosophie, als Lebenskunst. Das sagt alles über das
ungleiche Sozialprestige der beiden Tätigkeiten aus. Mathemati-
kern, also den Vertretern der strengsten Wissenschaft, billigte man
in platonischer Tradition den Philosophentitel zuweilen ausdrück-
72 Die neuplatonische Lehre vom Nomos Porphyr, ad Marc. 25 ff., die Verbindung
der Dialektik mit den koinai doxai kai ennoiai lambl. ap. Stob. Anth. 2 p. 19f.
Wachsmuth/Hense.
73 A. Dihle, o. Anm. 41, 205ff.
74 Z. B. Epict. diss. 1,11,39; 4,1.138; Marc. Ant. 1,16,4; gleichbedeutend mit philo-
logos wird in solchem Zusammenhang auch scholastikos gebraucht.
75 Sen. ep. 108,23; Epict. diss. 2,4.
76 Neben dem Arzt Galen, dem Agrarschriftsteller Columella oder dem Architek-
ten Vitruv ist hier besonders auf den großen Gelehrten Ptolemaios zu verwei-
sen, der die Astrologie nach der Art der Philosophie zu behandeln ankündigt
(Tetrabibi. 1,1,1). Ähnlich auch die Einleitung zum astrologischen Traktat des
Vettius Valens aus dem 2. Jh. n.C.