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Heckel, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 3. Abhandlung): Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage: wo war das Volk? ; vorgetragen am 11. Februar 1995 — Heidelberg: Univ.-Verl. Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48183#0041
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Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage

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recht der deutschen Nation zu gründen gebietet, obwohl, ja weil der
historisch-politische Ursprung des Grundgesetzes unter den Beengun-
gen der kriegsfolgenbedingten Besatzungsherrschaft dem normativen
Anspruch der Verfassung damals noch nicht entsprochen hat
c) Ebensowenig überzeugt die „Provisoriumstheorie1"^'. Denn das
Grundgesetz hat sich nicht schlechthin und allgemein, sondern speziell
und ausschließlich für den Wiedervereinigungsfall als Provisorium ver-
standen, falls eine Verfassungsablösung nach Art. 146 GG a.F. hierfür
unvermeidbar sei. Aus Art. 23 GG a.F. geht hervor, daß das Grundge-
setz auch mit der Wiedervereinigung durch einen Beitritt ohne den Preis
der Verfassungsbeseitigung rechnete: Es hat sich also gleichermaßen als
potentielles Provisorium wie auch als potentielles Definitivum definiert;
es hätte ja auch fraglos weitergelten sollen, wenn sich die Einigung als
unrealisierbar erwiesen hätte. Darum kann dahingestellt bleiben, ob
sich das Grundgesetz nicht längst durch einen tiefgreifenden Verfas-
sungswandel nach über 40 Jahren zur Dauerverfassung verfestigt hat.
Jedenfalls gehört der Provisoriumscharakter nicht zu den in Art. 79 Abs.
3 GG für unantastbar erklärten Verfassungsgrundlagen. So konnte der
Gesetzgeber im Wege der Verfassungsänderung die Dauergeltung des
Grundgesetzes klarstellen und die ursprüngliche Begrenzung auf „eine
Übergangszeit“ tilgen, wie es in Art. 4 des Einigungsvertrages geschah.
Weil das Grundgesetz nicht als Provisorium mit der Einigung seine Gel-
51 Zum 40-Jahres-Jubiläum im Mai 1989 wurde die volle demokratische Legitimation und
praktische Bewährung des Grundgesetzes allseits und gerade auch von jenen Autoren
preisend hervorgehoben, die dann im Herbst die Geburtsmäkel des Grundgesetzes ent-
deckten. Erst jetzt wurde neben dem Wiedervereinigungsauftrag, der sich durch den
Beitritt erledigt hatte, durch die Geburtsmakeltheorie dem Ablösungsartikel 146 GG
a.F. als zweiter Normzweck die Heilung der Ursprungsdefizite des Grundgesetzes un-
terschoben, um daraus abzuleiten, daß Art. 146 GG a.F. mit Vollendung der deutschen
Einheit keineswegs gegenstandslos geworden sei, sondern nunmehr als Mittel zur Ver-
änderung der Verfassungsverhältnisse in der Zukunft (und nicht nur zur Überwindung
der angeblichen Geburtsgebrechen aus der Vergangenheit!) zu benützen sei. - Aber die
Heilung von anfänglichen Defiziten des Grundgesetzes konnte nur im Verfassungsän-
derungsverfahren erfolgen und ist auf diesem Wege seit 1949 vielfach erfolgt. Bis zur
Wende 1990 war sich jedenfalls die Fachwelt in Theorie und Praxis einig, daß Art. 146
GG a.F. ausschließlich zur Wiedervereinigung, nicht aber zu einer Verfassungsrevisi-
on benützt werden dürfte, da letztere ausschließlich dem Verfassungsänderungsver-
fahren nach Art. 79 Abs. 2 und 3 vorbehalten sei. Vgl. statt anderer Ulrich Scheuner,
Art. 146 und das Problem der Verfassunggebenden Gewalt, in: DÖV 1953, S. 581 ff.;
Murswiek (N 20), S. 103 ff., 116 f.; Steiner (N 20), S. 209 f.
52 Strorost (N 7), S. 323 ff.; Wahl (N 7), S. 474 f„ 476 ff.; Mahrenholz (N 7), S. 29 ff.; a.A. (statt
anderer) Badura, Diskussionsbeitrag, in: WDStRL 49 (1990), S. 150; Isensee (N 1), S. 31 ff.;
ders. (N 4), § 166 Rn. 36-43; Zippelius (N 6), S 291; Kirchhof (N 8), S. 17 ff., 53.
 
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