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Heckel, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 3. Abhandlung): Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage: wo war das Volk? ; vorgetragen am 11. Februar 1995 — Heidelberg: Univ.-Verl. Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48183#0045
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Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage

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beschränkt werden kann. Art. 146 GG n.F. ist deshalb an die Grenzen
der Verfassungsänderung nach Art. 79 Abs. 3 GG gebunden.
3. Eine Totalrevision ist als ganz exzeptionelles Rechtsinstitut geeig-
net zur Lösung von exorbitanten Verfassungskrisen, die mit den Mitteln
des normalen Verfassungsvollzugs und Verfassungsänderungsverfah-
rens nicht mehr zu bewältigen sind. Revolutionen lassen sich zwar nicht
verbieten, wenn das Volk als Träger der Verfassunggebenden Gewalt
seine Verfassung nicht mehr bejaht. Revolutionen lassen sich aber ver-
hüten, wenn die Verfassung so ausgestaltet und ausgelegt wird, daß sich
das Volk im Umbruch neu mit seiner Verfassung identifizieren und die
revolutionären Kräfte in ihren Formen absorbieren kann.
4. Das Verfahren sollte demokratisch - und zwar potenziert demo-
kratisch - in mehreren plebiszitären und repräsentativen Verfahrens-
stufen ausgestaltet sein. Niemand soll künftig fragen können: „Wo war
das Volk?“
Das Recht zur Initiative sollte dem Volk durch Volksbegehren, aber
auch den gesetzgebenden Körperschaften mit qualifizierter Mehrheit ein-
geräumt sein, um ihnen in der Krise den Appell an das Volk zu ermögli-
chen. Für das Volksbegehren ist ein sehr hohes Quorum von 20 bis 25 Pro-
zent der Wahlberechtigten zu verlangen, damit die Totalrevision nicht
kontraproduktiv wirkt59. Die Verfassung büßt an Vitalität und Würde ein,
wenn sie sich jederzeit auf das Verlangen jeder kleinen revolutionären
Minderheit groß aufgemacht die Existenzfrage ihrer Weitergeltung stel-
len lassen muß und damit den Zweifel an ihrem Selbstwert und Funktio-
nieren gewissermaßen selbst institutionalisiert. Die Einleitung der Total-
revision ist nur dann am Platze, wenn sie von einem Großteil der Bevöl-
kerung begehrt wird, dem eine schwere Verfassungskrise nicht mehr auf
Grund der normalen parlamentarischen Wahlen, Reformen und Verfas-
sungsänderungen heilbar erscheint. Das Initiativrecht des Volksbegeh-
rens bietet den antragsberechtigten Gruppen eine enorme Privilegierung
an, da die übrige Bevölkerung gezwungen wird, sich mit deren politischen
Anliegen in einem außerordentlichen Verfahren auseinanderzusetzen;
darin liegt eine erhebliche, staatlich auferlegte Belastung des Rechts der
39 Das Quorum muß in Deutschland weit höher liegen als in der Schweiz (Art. 120 Abs. 1
BV), da hier die Totalrevision nach Zweck und systematischer Stellung in der Verfas-
sung anders angelegt ist und anders auszugestalten ist und da überdies die politisch
gefestigten demokratischen Verhältnisse der Schweiz sich nicht mit den politischen
Belastungen der Vergangenheit und Gegenwart in Deutschland vergleichen lassen.
 
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