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Wolgast, Eike [Hrsg.]; Seebaß, Gottfried [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Kirchenrechtliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland [Hrsg.]; Sehling, Emil [Begr.]
Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts (6. Band = Niedersachsen, 1. Hälfte, 1. Halbband): Die Fürstentümer Wolfenbüttel und Lüneburg mit den Städten Braunschweig und Lüneburg — Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1955

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https://doi.org/10.11588/diglit.30040#0135
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Kirchenordnung 1569

Und erstlich, wiewoll die menschliche natur
durch die sünde jemmerlich durchgiftet und ver-
derbet ist, so ist doch gleichwoll damit des
menschen natur nicht in stein oder holz ver-
wandelt noch in eines gar unvernunftigen thiers
wesen verkeret, sondern hat behalten nach
dem fall leib und seele und, wie 18. articulus
confessionis ex Augustino 23 meldet, mensch-
lichen verstand, vernunft, willen, natürliche kref-
te und vermögen, nicht in geistlichen, göttlichen
sachen, sondern in hendeln dieser welt und
dieses lebens, dardurch der natürliche mensch
in weltlichen sachen, so der vernunft under-
worfen und diß zeitlich leben belangen, etlicher-
massen einen freyen willen hat, etwas zu ge-
denken, zu wehlen, fürzunehmen, zu handeln,
außzurichten oder zu underlassen, doch in gros-
ser schwacheit, weil die natur unartig und zu-
dem vom teufel oft gehindert wird.

Zum andern, was belanget die sünde und das
böse, do ist der natürliche wille von der ge-
rechtigkeit allzu frey und der sünde allzu dienst-
bar, Roman. 6 [16 ff.], das er nicht allein kan
auß eigener wahl außdenken, wehlen, fürneh-
men und außrichten, was böses ist, sondern kan
von natur ohne den Geist Gottes nicht anders
gedenken, wöllen und thun, denn was böse und
Gott zuwieder ist, Genesis 6 [3] und 8 [21];
Roman. 8 [7], und darzu hat er willen, lust und
liebe, Proverb. 3 [Pr 2,14]; Jsai. 3 [81], und wird
vom teufel darzu oft wünderlich getrieben,
Ephes. 2 [2],

Zum dritten aber ist in diesem artickel die
fürnemste frage, was die natürlichen krefte
des menschen, so durch die sünde verderbet und
denn der heilig Geist noch nicht angefangen
hat zu widergeberen und verneuern, in geist-
lichen und göttlichen sachen, belangend die
bekerung für Gott, vermügen, als da sind war-
haftige, rechtschaffene, herzliche furcht Got-
tes, glaube, liebe etc. anzufangen und zuwege
zu bringen. (Denn sonst eusserlich und zum
schein der pharisaische freye wille auch in
diesen sachen sich viel bemühet, aber ist nichts

23 XVIII,4 ff. Bek. Schr. S. 71.

rechtschaffnes.) Auf diese frage wird auß Got-
tes wort recht geantwortet, das der natürliche
freye wille in den sachen zum guten erstorben
sey und nichts vermüge, sondern das diß alles
ein eigen werk sey allein Gottes des heiligen
Geistes. Aber dieses muß auch alßbald mit fleiß
erkleret und verwaret werden, das es nicht
auf enthusiastische weise verstanden werde,
alß wirkte der heilige Geist die bekerung im
menschen also, das gar keine enderung oder
bewegung in des menschen verstande, wille und
herze geschee und folgte. Dann wo keine ende-
rung oder verneuerung der gedanken, sinnes
und gemütes ist, wo kein verlangen ist zur
gnade Gottes, keine bewilligung oder consens
des gepredigten worts, kein guter vorsatz, dem
wort zu folgen, kein vleiß noch mühe, dem
alten Adam zu wehren, dem bösen willen zu
wiederstreben und sich in Gottes willen zu
ergeben etc., do ist ohne zweifel auch keine
warhaftige bekerung. Und sollen die leute oft
erinnert werden, das solche stücke in war-
haftiger bekerung müssen vorhanden sein, und
sollen auch darzu vermanet werden.

Aber diß ist die frage, darauf der rechte status
controversiae stehet 24, woher der mensch sol-
che enderung des sinnes und willens, verlangen,
bewilligung, vorsatz, vleiß etc., geschicklicheit
und vermögen, solchs zu gedenken, zu wöllen,
fürzunehmen und außzurichten, uberkomme und
habe, ob er solchs auß seinen eigenen kreften
allein vermöge oder ob der mensch auß seiner
natürlichen geschicklicheit den anfang mache
und alßdann erst der heilige Geist zuhülfe kom-
me, oder wenn der heilige Geist seine wirkung
in dem menschen angefangen hat, das alßdann
der mensch auß seinen eignen natürlichen
kreften des alten Adams etwas vermöge zu
seiner bekerung zu helfen und mitzuwirken, das
also die frage ist nicht von den neuen gaben,
neuen kreften und neuer geschicklicheit, so
der heilige Geist durch seine wirkung in denen,
die bekeret werden, gibt, schafft und anrichtet,
sondern was der heilige Geist im menschen für

24 Vgl. FC,Ep II,1; SD II,2. Bek. Schr. S. 776 u. 871.

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