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Wolgast, Eike [Editor]; Seebaß, Gottfried [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Kirchenrechtliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland [Editor]; Sprengler-Ruppenthal, Anneliese [Oth.]; Sehling, Emil [Bibliogr. antecedent]
Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts (7. Band = Niedersachsen, 2. Hälfte, 2. Halbband, 1. Teil): Stift Hildesheim, Stadt Hildesheim, Grafschaft Oldenburg und Herrschaft Jever — Tübingen: J.B.C. Mohr (Paul Siebeck), 1980

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https://doi.org/10.11588/diglit.32954#0278
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Kirchenordnung 1573

zucht haben, hat darzu das gesetz geben. Nun were
das gesetz ohne executio und straffe nur eine
schwache stimme und gedön. Darumb helt Gott
selbs darob ernstlich und schrecklich, wie die grossen
zerstörungen in der welt für und für beweisen7
Die dritte ursach ist, das viel menschen durch
solche straffen erinne[r]t werden, das sie wiederumb
zu Gott seufzen und bekert werden, item, das die
heiligen für und für mehr den zorn Gottes wider die
sünde betrachten und gottesfurcht, glauben und
anruffung in ihnen zuneme und sterker werde, wie
Paulus spricht [1. K 11, 32]: Wenn wir gestrafft
werden, so werden wir gezüchtigt, das wir nicht mit
dieser welt verdampt werden etc.
Und dieweil noch in dieser verderbten natur viel
zweifels und unordentlicher flammen ist, darzu
fallen auch etliche, die heilig gewesen sind, in eus-
serliche grosse sünd, als Aaron, David und andere,
so lesset Gott die leibliche plagen noch auf allen
menschen, auch auf den heiligen, in diesem leben
bleiben, das sie dardurch erinnert werden, obgleich
die ewige straffe weggenomen ist. Darvon hernacher
weiter gesagt wird in der frag: Warumb die heiligen
unter das kreuz geleget sind8.
Verlieren auch die Christen den glauben,
Gottes gnadt und den heiligen Geist, wenn
sie wissentlich sündigen?
Antwort:
Ja. Darumb erfordert auch die hohe grosse nod,
das die lehr von unterscheid der regierenden und
nicht regierenden sünde, wie es Paulus [Rm 5, 20f.;
6, 12 ff.] heist, oder wie mans nach gemeinem alten
brauch nennet, von tödlichen und teglichen sünden9,

7 Der Absatz im allgemeinen wörtlich nach Melan-
chthon, Der ordinanden examen 1552, MW VI,
183; Sehling V, 165.
8 Die beiden letzten Absätze wörtlich nach Melan-
chthon, Der ordinanden examen 1552, MW VI,
183f.; Sehling V, 165.
9 Die Todsünde gilt als Lebensgrundentscheidung
gegen Gott. Nur auf sie trifft der volle Begriff der
Sünde zu (Thomas, Summa theol. 1 II q.88a.l ad
1). Die läßliche Sünde dagegen ist bestimmt durch
mangelnde Aktmächtigkeit. Entsprechende schola-

mit höchsten vleis der gemeine Gottes aus grunde
der schrift fürgetragen und durch stete erinnerung
imer eingebildet werde. Denn eben daher, das die
welt diesen unterscheid nicht wissen noch lernen
wil, fleust die schendliche sicherheit und der grosse
unbusfertige mudtwille bey denen, die sich evange-
lisch rühmen, weil sie gehöret haben, sind wir doch
alle arme sünder, ist doch in diesem leben niemands
one sünde, und die gleubigen sind gleichwol Gottes
kinder, ob sie wol bekennen müssen, das sie noch
sünde haben, Psal. 32 [5], 1. Joh. 1 [8-10]. Denn
daraus schliessen sie: Wenn ich gleich one busse und
bekerung bleibe, verharre und vortfare in sünden,
wie und wasserley dieselbige sein mögen, so kan ich
gleichwol ein Christ und Gottes kind sein und selig
werden. Diesen falschen, gottlosen, teuflischen
wahn kan anders nicht begegnet und gewehret
werden, denn das der unterscheid peccati venialis
et mortalis gründlich und mit vleis getrieben werde.
Es stehet aber der unterscheid nicht darauf, wie
man im bapstumb narret, das etliche sünde wider
Gottes gebot an sich selbst für Gott so gering, klein
und nichtig sein solten, das sie nicht wert weren,
das Gott darüber zürnen und dieselbige mit ewigem
fluch straffen solte, wenn er gleich damit wolte ins
gericht gehen. Denn Gottes urteil stehet klar Deu-
teron. 27 [26]: Wer nicht in allen bleibt, das im ge-
setz geschrieben stehet, der sey verflucht, und
Jacobi 2 [10]: So jemand das ganze gesetz helt und
sündigt an einem, der ist des ganzen schüldig. Und
darauf gehet die lange, ernste predigt Christi
Matth. 5 [17ff.]. Derhalben in den unbekerten und
ungleubigen sind alle sünde mortalia; denn wer
nicht gleubet an den Son Gottes, uber dem bleibt
der zorn Gottes, Johan. 3 [36]10

stische Formeln: actio praeter legem, inordinatio
circa media, non circa finem (Thomas, De malo,
q. 7 a. 1 ad 1). Vgl. F. Scholz, LThK IX2, 1181 ff.
Die Unterscheidung von peccata mortalia und
peccata venialia entsprach auch der mittelalter-
lichen Bußpraxis; vgl. E. Kinder, RCKU VI, 491.
Zur protestantischen Unterscheidung ,,inter pecca-
tum regnans et non regnans" Melanchthon, Der
ordinanden examen 1552, MW VI, 201; Sehling V,
172.
Der Absatz im allgemeinen wörtlich nach Chemnitz,

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