19. Mai 2001
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im Verhältnis zum Gesetzgeber den „Verfassungswillen“ des Volkes, den im Verfas-
sungskonsens greifbaren Willen des Volkes also, dass die Verfassung gelten solle; und
dieser „Verfassungswille“ habe höheren Rang als der sich in einzelnen Gesetzen arti-
kulierende Mehrheitswille.
Aber der Versuch, das Legitimitätsproblem, das in der Aufteilung der verfassungs-
gebenden Gewalt steckt, durch die Unterscheidung zweier Intensitätsstufen des
Volkswillens in demokratische Harmonie aufzulösen, verfehlt den Kern eben dieses
Problems. Der demokratische Verfassungsstaat gründet sich auf zwei Prinzipien, das
Demokratieprinzip und das Verfassungsprinzip, die, so sehr sie symbiotisch miteinan-
der verbunden sind, doch auch in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Die
beiden Prinzipien sind ein ungleiches Paar. Das Demokratieprinzip ist das dynami-
schere, das offensivere. Das Verfassungsprinzip, das die Volkssouveränität rechtlich
einhegt, muss überhaupt erst handlungsfähig gemacht werden. Das geschieht in der
Konstituierung einer Gegenmacht, die, um der Dynamik des Demokratieprinzips
gewachsen zu sein, am stärksten Recht des demokratischen Souveräns beteiligt sein
muss, eben seiner verfassungsgebenden Gewalt. Erträglich für die Demokratie ist das
wiederum nur, wenn und weil diese Beteiligung in die Fiktion gekleidet ist, es handle
sich um rechtsprechende Gewalt.
Die „Verfassungsgewalt“ als Gegengewalt zu verstehen, heisst, Verfassungsgerichts-
barkeit im Geist Montesquieus zu interpretieren, auch wenn dieses Verständnis Mon-
tesquieus berühmtem Diktum, die richterliche Gewalt sei „en quelque fagon nul“, zu
widersprechen scheint.
Dass Verfassungsgerichtsbarkeit sich legitimieren lässt, erklärt noch nicht, dass sie
akzepiert wird. Sie wird in erstaunlichem Maße akzeptiert. In den Demokratien, in
denen es sie gibt, sind Verfassungsgerichte in aller Regel die Institutionen, denen das
größte Vertrauen entgegengebracht wird. Wie kommt das? Offenbar finden die mei-
sten Bürger es gut und richtig, dass eine Institution am Prozess der Bestimmung des
Gemeinwohls beteiligt ist, die nicht in den demokratischen Wettbewerb einbezogen
ist. Misstraut die Demokratie sich selbst? Ziehen die Bürger - in der Sprache der
europäischen Tradition gesprochen - eine „gemischte“ Verfassung einer rein demo-
kratischen vor; eine gemischte Verfassung, in der das verfassungsauslegende Gericht
das aristokratische, Demokratie temperierende Element darstellt? Es hat den
Anschein.
Darstellung der Arbeiten der Preisträger
Karl-Freudenberg-Preis
Franc Meyer: „Kooperierende Metallzentren in Mehrkernkomplexen multidentater
Pyrazolatliganden“
Metalle wie Eisen, Nickel, Kupfer oder Zink werden für gewöhnlich nicht mit der
lebenden Natur in Verbindung gebracht. Tatsächlich kommt solchen Metallen in bio-
logischen Systemen jedoch eine ganze Vielzahl wesentlicher Funktionen zu. So enthält
beispielsweise jeder Mensch in seinem Körper rund 4,5 Gramm allein des Metalls
Eisen (so viel, wie ein großer Nagel wiegt) - den größten Teil davon als Bestandteil des
roten Blutfarbstoffs, des Hämoglobins, das die Aufgabe hat, den lebensnotwendigen
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im Verhältnis zum Gesetzgeber den „Verfassungswillen“ des Volkes, den im Verfas-
sungskonsens greifbaren Willen des Volkes also, dass die Verfassung gelten solle; und
dieser „Verfassungswille“ habe höheren Rang als der sich in einzelnen Gesetzen arti-
kulierende Mehrheitswille.
Aber der Versuch, das Legitimitätsproblem, das in der Aufteilung der verfassungs-
gebenden Gewalt steckt, durch die Unterscheidung zweier Intensitätsstufen des
Volkswillens in demokratische Harmonie aufzulösen, verfehlt den Kern eben dieses
Problems. Der demokratische Verfassungsstaat gründet sich auf zwei Prinzipien, das
Demokratieprinzip und das Verfassungsprinzip, die, so sehr sie symbiotisch miteinan-
der verbunden sind, doch auch in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Die
beiden Prinzipien sind ein ungleiches Paar. Das Demokratieprinzip ist das dynami-
schere, das offensivere. Das Verfassungsprinzip, das die Volkssouveränität rechtlich
einhegt, muss überhaupt erst handlungsfähig gemacht werden. Das geschieht in der
Konstituierung einer Gegenmacht, die, um der Dynamik des Demokratieprinzips
gewachsen zu sein, am stärksten Recht des demokratischen Souveräns beteiligt sein
muss, eben seiner verfassungsgebenden Gewalt. Erträglich für die Demokratie ist das
wiederum nur, wenn und weil diese Beteiligung in die Fiktion gekleidet ist, es handle
sich um rechtsprechende Gewalt.
Die „Verfassungsgewalt“ als Gegengewalt zu verstehen, heisst, Verfassungsgerichts-
barkeit im Geist Montesquieus zu interpretieren, auch wenn dieses Verständnis Mon-
tesquieus berühmtem Diktum, die richterliche Gewalt sei „en quelque fagon nul“, zu
widersprechen scheint.
Dass Verfassungsgerichtsbarkeit sich legitimieren lässt, erklärt noch nicht, dass sie
akzepiert wird. Sie wird in erstaunlichem Maße akzeptiert. In den Demokratien, in
denen es sie gibt, sind Verfassungsgerichte in aller Regel die Institutionen, denen das
größte Vertrauen entgegengebracht wird. Wie kommt das? Offenbar finden die mei-
sten Bürger es gut und richtig, dass eine Institution am Prozess der Bestimmung des
Gemeinwohls beteiligt ist, die nicht in den demokratischen Wettbewerb einbezogen
ist. Misstraut die Demokratie sich selbst? Ziehen die Bürger - in der Sprache der
europäischen Tradition gesprochen - eine „gemischte“ Verfassung einer rein demo-
kratischen vor; eine gemischte Verfassung, in der das verfassungsauslegende Gericht
das aristokratische, Demokratie temperierende Element darstellt? Es hat den
Anschein.
Darstellung der Arbeiten der Preisträger
Karl-Freudenberg-Preis
Franc Meyer: „Kooperierende Metallzentren in Mehrkernkomplexen multidentater
Pyrazolatliganden“
Metalle wie Eisen, Nickel, Kupfer oder Zink werden für gewöhnlich nicht mit der
lebenden Natur in Verbindung gebracht. Tatsächlich kommt solchen Metallen in bio-
logischen Systemen jedoch eine ganze Vielzahl wesentlicher Funktionen zu. So enthält
beispielsweise jeder Mensch in seinem Körper rund 4,5 Gramm allein des Metalls
Eisen (so viel, wie ein großer Nagel wiegt) - den größten Teil davon als Bestandteil des
roten Blutfarbstoffs, des Hämoglobins, das die Aufgabe hat, den lebensnotwendigen