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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2001 — 2002

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I. Das Geschäftsjahr 2001
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Jahresfeier in der Alten Aula der Universität am 19. Mai 2001
DOI Artikel:
Kielmansegg, Peter: Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung
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https://doi.org/10.11588/diglit.66350#0061
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Jahresfeier

war, dass die moderne Demokratie sich überhaupt auf Verfassungsgerichtsbarkeit ein-
gelassen hat.
Tatsächlich ist sowohl bei der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika wie
in der Französischen Revolution zwar darüber diskutiert worden, wie sich die Bin-
dung des Gesetzgebers an die Verfassung würde durchsetzen lassen; aber keine der
Verfassungen, die damals geschaffen wurden, vertraute das Recht, den Gesetzgeber zu
überwachen, explizit den Richtern an. In den USA hat sich der Supreme Court dieses
Recht selbst alsbald genommen, ohne dabei freilich auf Widerspruch zu stoßen. In
Frankreich hat sich eine Tradition der eindeutigen Ablehnung eines solchen richterli-
chen Prüfungsrechts etabliert. Erst im 20. Jahrhundert, genauer: in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts, hat sich Verfassungsgerichtsbarkeit in der Welt der Demokrati-
en weithin durchgesetzt.
II.
Dass wir Verfassungsgerichtsbarkeit als Rechtsprechung begreifen, ist eine Fiktion;
eine nützliche Fiktion vielleicht, aber eben doch eine Fiktion. Tatsächlich ist die der
Form nach als Rechtsprechung ausgeübte autoritative, verbindliche Auslegung der
Verfassung durch ein Gericht der Sache nach Ausübung der verfassungsgebenden
Gewalt. Natürlich muss sich das Gericht bei seiner Auslegung der Verfassung in plau-
sibler Argumentation auf den Verfassungstext beziehen. Auch bleibt ihm der Verfas-
sungsgesetzgeber vorgeordnet. Deshalb ist es zweckmäßig, Verfassungsgerichtsbarkeit
als „sekundäre“ Verfassungsgesetzgebung zu qualifizieren. Aber um die Ausübung
verfassungsgebender Gewalt handelt es sich. Der „primäre“ Verfassungsgesetzgeber
ist nach dem Willen aller demokratischen Verfassungen nur beschränkt, u. U. sehr
beschränkt handlungsfähig. Und die Bindung an den vorgegebenen Text ändert nichts
daran, dass erst durch die autoritative Auslegung der normative Gehalt der Verfassung,
vor allem der Grundrechte wirklich bestimmt wird.
Diese Bestimmung vollzieht sich in Entscheidungen, in der Wahl zwischen mehre-
ren möglichen Auslegungspositionen, nicht in Deduktionen, die nur offenlegen, was
im Verfassungstext schon vorentschieden ist. Minderheitenvoten, wie sie manche Ver-
fassungsgerichte - auch das Bundesverfassungsgericht - publizieren, spiegeln das sehr
deutlich wider. Woodrow Wilson, der amerikansiche Präsident, hat denn auch vom
Supreme Court gelegentlich sehr treffend bemerkt, er sei eine verfassungsgebende Ver-
sammlung in Permanenz. Es folgt aus diesem Verständnis der Verfassungsgerichtsbar-
keit, dass es wenig sinnvoll ist, sie in Montesquieus Schema der drei Gewalten der
Judikative zuzurechnen. Im Grunde handelt es sich um eine eigene, vierte Gewalt, die
man Verfassungsgewalt nennen könnte.
III.
Wenn man Verfassungsgerichtsbarkeit so deutet, als Teilhabe an der verfassungsge-
benden Gewalt nämlich, dann ist mit großer Dringlichkeit die Frage aufgeworfen, wie
sie sich rechtfertigen lässt. Denn die verfassungsgebende Gewalt des Volkes ist immer
als innerster Kern der Volkssouveränität begriffen worden. Welche gute Gründe lassen
sich dafür anführen, dieses demokratische Urrecht zu einem Teil einem Gericht zu
übertragen? Eine Antwort auf diese Frage lautet, das Verfassungsgericht verkörpere
 
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