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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2001 — 2002

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I. Das Geschäftsjahr 2001
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Gesamtsitzung am 14. Juli 2001
DOI Artikel:
Kieser, Alfred: Wissenschaft und Beratung
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https://doi.org/10.11588/diglit.66350#0095
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Sitzungen

ler und dass der Trend Unternehmensberater begünstigt und Wirtschaftswissenschaft-
ler benachteiligt.
Zu Beginn der 50er Jahre veröffentlichte der amerikanische Wirtschaftswissen-
schaftler und Soziologe Robert Merton Prinzipien der Wissenschaft, wobei diese Prin-
zipien den unter Wissenschaftlern vorherrschenden Konsens zum Ausdruck bringen,
dass wissenschaftliche Ergebnisse nach unpersönlichen, intersubjektiv rekonstruierba-
ren Kriterien erarbeitet werden sollen, dass sie der Gemeinschaft gehören und dass
Wissenschaftler ihnen grundsätzlich mit Skepsis gegenübertreten sollten. Anhand von
zwei Bereichen - Politik und Wirtschaft - wird gezeigt, dass es in neuerer Zeit immer
häufiger zu Verletzungen dieser Prinzipien kommt. So setzen Wissenschaftler ihre
Forschungsergebnisse zur Unterstützung politischer Gruppen ein und Universitäten
kooperieren mit Unternehmen, was zur Folge hat, dass Ergebnisse wissenschaftlicher
Arbeit nicht mehr der Gemeinschaft zur Verfügung stehen, sondern in den Dienst spe-
zifischer ökonomischer Interessen gestellt werden und dass Skepsis hinter das Ver-
wertungsinteresse zurücktritt. Diese Analysen weisen auf erhebliche Probleme im
Verhältnis zwischen Wissenschaft und Anwendungssystem hin.
Es wird gezeigt, dass Wissenschaft und Beratung zwei soziale Systeme sind, die
unterschiedliche Ziele verfolgen und unterschiedliche Methodiken sowie Rhetoriken
einsetzen. Wissenschaftler sind vor allem auf Mehrung der Wahrheit aus oder, weil
Wahrheit schlecht zu operationalisieren ist, auf Mehrung ihrer wissenschaftlichen
Reputation. Sie mehren diese, indem sie in angesehenen wissenschaftlichen Zeitschrif-
ten veröffentlichen, von Kollegen zitiert werden, Rufe von Universitäten, möglichst
von renommierten, erhalten, Ehrungen erfahren usw. Ihre Aktivitäten führen tenden-
ziell dazu, dass die Wissenschaft komplexer wird. So gibt es immer mehr Teilgebiete,
die jeweils eigene wissenschaftliche Zeitschriften, eigene Vereinigungen, eigene Lehr-
stühle und wissenschaftliche Institute, eigene Konferenzen usw. hervorbringen. Theo-
retische Ansätze und Methoden werden durch einen Prozess von Kritik und Weiter-
entwicklung ebenfalls zunehmend komplex. Durch Komplexität werden aber Kom-
munikationsbarrieren zu anderen scientific communities, vor allem aber auch zur Pra-
xis, welche die wissenschaftlichen Ergebnisse anwenden möchte, errichtet.
Unternehmensberatung ist im Gegensatz zur Wissenschaft keine gemeinnützige
Veranstaltung, sondern wird von gewinnorientierten Unternehmen betrieben. Eine
wichtige Funktion der Beratung ist die Vereinfachung von Zusammenhängen, welche
die Praktiker, die Beratung nachfragen, als zu komplex wahrnehmen. Daneben erfül-
len Berater eine Reihe von Funktionen, die nicht mit dem Transfer von Problemslö-
sungswissen zu tun haben: Sie legitimieren die Praktiken eines Unternehmens in den
Augen der Öffentlichkeit und der Kreditgeber als angemessen; sie munitionieren ein-
zelne Manager oder Gruppen von Managern für mikropolitische Auseinandersetzun-
gen mit anderen Managern bzw. Managergruppen; sie tragen zur Förderung der Kar-
riere derjenigen Manager bei, von denen sie gesponsert werden; sie „stiften Sinn“, d. h.
sie stellen Entwicklungen, welche Manager als bedrohlich empfinden, in einen Zusam-
menhang, welcher diese Entwicklungen als „natürlich“, „mit Chancen verbunden“
und beherrschbar erscheinen lässt.
Berater profitieren in einem hohen Maße davon, dass sich ihre Leistungen einer
Evaluation entziehen. Es ist nicht möglich, den Beitrag eines Beratungsprojekts zur
Zielerreichung eines Unternehmens - Gewinn bzw. weniger Verlust als ohne Bera-
tung, Wachstum oder Shareholder Value - auch nur annähernd zu bestimmen.
 
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