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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2002 — 2003

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I. Das Geschäftsjahr 2002
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 8. Februar 2002
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Stietencron, Heinrich von: Jüngste Entwicklungen im Hinduismus; politische und religiöse Komponenten
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https://doi.org/10.11588/diglit.66351#0045
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56 | SITZUNGEN

WISSENSCHAFTLICHE SITZUNG
Herr von Stietencron hält einen Vortrag: „Jüngste Entwicklungen im Hinduismus;
politische und religiöse Komponenten“.
In den letzten 15 Jahren vollzieht sich in Indien eine stille aber deutliche religiöse
Revolution. Ihren auffälligsten Ausdruck findet sie auf der Objekt-Ebene in einer
rasanten Zunahme religiöser Bauwerke, auf der Ebene subjektiver Erfahrung in einer
neuen religiösen Aufbruchstimmung, die auch für neues Leben an alten, verlassenen
Tempeln sorgt. Der frappierende Bauboom im religiösen Sektor ist in größeren Städ-
ten und Finanzzentren besonders deutlich, bleibt jedoch nicht auf diese beschränkt,
sondern er überzieht das ganze Land und reicht in weit entfernte Dörfer. Sogar die
abgelegenen Berg- und Waldgebiete bleiben nicht ausgegrenzt aus diesem Prozeß
einer demonstrativen religiösen Erneuerung Indiens.
Parallel zu den Neugründungen werden auch alte Tempel restauriert und neu
gestaltet. Vorwiegend junge Leute reinigen den alten, verwitterten Tempelbezirk und
bessern die Umfassungsmauern aus. Künstler bemalen die Tempelwände außen und
in der Vorhalle mit neuen Fresken, die sich an den Farben und Formen üblicher
Devotionaliendrucke und an der Bildwelt der religiösen Filmserien des indischen
Fernsehens orientieren. Vor allem erfreut sich eine neue plastische, mit grellen
Industriefarben bemalte Zementkunst besonderer Beliebtheit, die jetzt an vielen
Tempeln zu sehen ist: Halbreliefs und vollplastische Figuren aus Zement, deren etwas
plumpe Formen erst durch die Bemalung der Oberfläche an Detail und Ausdruck
gewinnen. Sie geben auch alten Tempeln em völlig neues, farbiges Gesicht. Dabei
erweisen sich die Künstler oder ihre Auftraggeber auch als ungewöhnlich kreativ: sie
erschaffen neue Gottheiten, entwickeln neue Ikonographien. Sie formen ein neues,
unterschiedliche Kulte verbindendes Pantheon. Auffälligstes Beispiel dafür sind syn-
kretistische Götterbilder, welche den Gott Siva mit Krishna oder Rama in einer
Gestalt verbinden.
Deutlich ist auch die Tendenz, in den neuen Tempeln möglichst viele
unterschiedliche Gottheiten rituell zusammenzuführen. An die Stelle der traditio-
nellen Konzentration im Tempel auf jeweils eine Gottheit tritt der Versuch, die
Vielzahl der Götter als zusammengehöriges, gesamtindisches Pantheon zu ver-
stehen. Zugleich wird die traditionelle Individualität der großen Götter gezielt
untergraben, indem man beispielsweise die Außenwände eines dem Gott Shiva
geweihten Tempels mit bunten Szenen aus dem Leben des Krishna oder Rama
bemalt, einen Vishnutempel dagegen mit Darstellungen Shivas und der Grossen
Göttin.
Man erkennt eine deutliche und bewusst gesteuerte Tendenz, im Tempel Götter
zu versammeln, die normalerweise nicht zusammen vorkommen, weil sie ursprüng-
lich verschiedenen Kulten angehören und in verschiedenen Theologien verankert
sind. Dass diese Bewegung nicht von gelehrten Brahmanen ausgeht, sondern von
einer theologisch eher ungebildeten bürgerlichen Mittelschicht, zeigt sich in gele-
gentlichen krassen Verstößen gegen traditionelle ikonographische und ikonologische
Regeln.
 
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