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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2002 — 2003

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I. Das Geschäftsjahr 2002
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Haug, Walter: Richard Brinkmann (16.6.1921 - 2.11.2002)
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https://doi.org/10.11588/diglit.66351#0157
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NACHRUFE

zweiten Hymne sagen: sie „spricht nicht nur von etwas; sie realisiert in der Sprache,
wovon sie spricht.“ Und er bringt dies in Verbindung mit der Möglichkeit des reli-
giösen Vollzugs im Wort, womit eine Beziehung eröffnet wird, die Brinkmann
immer wieder beschäftigt hat, so insbesondere in der kurzen Skizze „Theologie und
Literaturwissenschaft — Die freundlichen Brüder“ von 1980.
Eine besondere Beziehung hat Brinkmann seit seiner Dissertation mit Fontane
verbunden — die große Monographie ist 1967 erschienen. Es ist immer wieder eine
geistesverwandte Zuneigung spürbar, die freilich durch historische Nüchternheit
jeweils schnell wieder zurückgenommen wird. Man kennt Fontane ja als harten Kri-
tiker am verkrusteten Ständewesen seiner Zeit. In den Romanen erscheinen die
Figuren aus der adeligen und bürgerlichen Gesellschaft zwar häufig scharf gezeich-
net, ja reichlich bizarr, aber sie stehen doch in einem versöhnlichen Licht. Das hat
man ihm nicht nur von links zum Vorwurf gemacht. Brinkmann versteht diesen
Widerspruch vom Eigenrecht der poetischen Darstellung her. Die Überbetonung
des Negativen und Häßlichen, die von vielen Realisten des 19. Jahrhunderts forciert
wurde, hätte das, worum es Fontane ging, verhindert, nämlich das Banale und All-
tägliche auf ein Menschliches hin transparent werden zu lassen. Der immer wieder
in seiner irritierenden Treffsicherheit bewunderte Untertitel der Monographie
„Über die Verbindlichkeit des Unverbindlichen“ bietet dafür die unumgänglich
paradoxe Formel. Sie bedeutet: Die gesellschaftlichen und auch die religiösen Tradi-
tionen bleiben auch in ihrer überholten Formalität verbindlich, und sie sind deshalb
zu respektieren, so gut es eben geht. Auch wenn einem bewußt ist, daß sie entleert
sind, ist es doch möglich, daß das ursprünglich Humane darin durchbricht. Das ist —
und damit schwenkt Brinkmann auch hier auf die ihn bedrängende Grundfrage em
— Fontanes Antwort auf das Realismusproblem. Er weigert sich, eine objektive Wirk-
lichkeit vorzutäuschen, die doch nur em Produkt des Erzählers sein kann, vielmehr
bekennt er sich zur unumschränkten Subjektivität aller Darstellungskunst. Und gera-
de dies führt er über seine Figuren vor, vor allem in den die Romane prägenden
Gesprächen, in denen Meinung gegen Meinung gesetzt wird. Nichts wird endgültig
formuliert. Und doch kann im Hintergrund unmerklich-innerlich etwas geschehen.
Der unlösbare Widerspruch zwischen den möglichen Positionen ist das Kennzeichen
einer wahrhaft realistischen Dichtung.
Die eigentümliche Affinität zwischen der in dieser Weise charakterisierten poe-
tischen Welt Fontanes und Richard Brinkmanns eigenem Wissenschafts- und
Lebensstil ist bei aller Distanzierung, die er selbst übt, nicht zu verkennen. Die Ver-
suche, mit dem Dilemma zwischen einer objektiv nicht mehr verbindlich geordne-
ten Welt und einer subjektiv zu einer Scheinobjektivität herabgewürdigten Tatsäch-
lichkeit zurechtzukommen, führen trotz der unvergleichbar andern historisch-sozia-
len und persönlichen Lage zu bemerkenswerten Ähnlichkeiten: da ist Brinkmanns
bewußte Pflege einer offen-heiteren Gesprächskultur, da sind seine Erkenntnisskep-
sis und der entsprechende Umgang mit der Wahrheit dessen, was als wissenschaftlich
eindeutig präsentiert wird, und da ist schließlich quer zu allen gesellschaftlichen Ver-
zerrungen, mit denen man leben muß, der Glaube an die Möglichkeit von Huma-
nität.
 
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