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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2002 — 2003

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I. Das Geschäftsjahr 2002
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Haug, Walter: Richard Brinkmann (16.6.1921 - 2.11.2002)
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https://doi.org/10.11588/diglit.66351#0158
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Richard Brinkmann | 169

Am schönsten zeigt sich dies, wenn man beachtet, daß Brinkmann als Interpret
immer auch Kritiker ist: im Widerspruch entfaltet sich das Relative und vollzieht sich
das Humane. Wissenschaftliche Zugriffe werden stets in ihrem Teilrecht bewußt
gehalten, sowohl, wenn er sich distanziert, wie auch, wenn er etwas gutheißt. Dabei
bleibt die Bemühung um ein differenziertes Urteil insofern immer offen, als sie sich
selbstreflexiv in den Interpretationsprozeß einschreibt. Radikale Ablehnung ist sel-
ten, sie findet sich nur, wo trotz aller Verständnisbereitschaft nichts Brauchbares zu
gewinnen ist. Auf der andern Seite bleiben viele Urteile in der Schwebe und bieten
sich damit als bloße Wegweiser für weitere Überlegungen an. Das kann zu einer sehr
komplexen Darstellungsform führen, die mehrere Deutungsoptionen in Erwägung
hält, auch wenn in behutsamer Entschiedenheit doch Akzentuierungen vorgenom-
men werden. Besonders auffällig wird dies in BrinkmannsWertsetzungen im Bereich
der Forschungsgeschichte. So schon in „Wirklichkeit und Illusion“ im Umgang mit
dem Realismusbegriff und der sich in mehreren Stufen anschließenden, immer
noblen Auseinandersetzung mit der Kritik. Oder, in höchster Meisterschaft, die so
unerhört dicht-differenzierte Bestandsaufnahme der Expressionismusforschung —
seine letzte große Arbeit: geronnene Souveränität. Und schließlich ist noch einmal
die Einführung zum Symposion „Romantik in Deutschland“ nennen, weil hier
besonders dringlich das Instrumentarium des Interpreten mit in die Debatte einbe-
zogen wird, indem Brinkmann in verschärfter Dialektik den Epochenbegriff histo-
risiert, so daß er sich in der Darstellung seiner Geschichte selbst reflektiert und in
der harten Widersprüchlichkeit seiner Verwendung, seiner Kennzeichnung und
Beurteilung die Facetten seines Gegenstandes zum Bewußtsein zu bringen vermag.
Überspitzt könnte man als theoretisches Fazit formulieren: Nur wenn man den Epo-
chenbegriff wissenschaftsgeschichtlich der Irritation unterwirft, indem man zeigt,
was er jeweils nicht faßt, wird das, was er fassen sollte, zugänglich.
So ist es denn auch ganz folgerichtig, daß Brinkmann sich nicht in erster Linie
als Gelehrten sah, der Wissenschaftsgeschichte machen wollte, ihm ging es vordring-
lich um den Stil im Umgang mit den Menschen, die dieses Geschäft betreiben. Im
persönlichen Gespräch, das es ihm zu ermöglichen schien, das Wissenschaftliche in
Lebensverständnis überzuführen, sah er seine wichtigste Aufgabe, nicht im Sinne
einer Lehre, im Gegenteil: im Sinne einer Humanität aus dem Unverbindlichen. Vor
diesem Ziel hat er oft die eigene Produktivität zurückgestellt. Man mag das bedau-
ern, aber alle, die an diesem Gespräch teilhaben konnten, seine vielen, über die ganze
Welt verstreuten Schüler und Freunde, danken es ihm.

WALTER HAUG
 
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