29. November 2003
97
fünfziger Jahren im Sinne der nachträglichen Rückkoppelung.3 Die nachträgliche
Bearbeitung von Duchamps Ready Made-Konzept durch die Generation von Flu-
xus und Pop Art erzeugte em Doppeltes: Eine einmalige Aktion wurde durch Wie-
derholungen verewigt, so gut wie die Wiederholungen sich durch jene einmalige
Aktion eine Vergangenheit, ja Kunstgeschichte verschaffte.
Es bleibt der Einwand, man könne nicht leichtfertig einen Mechanismus indi-
vidueller Erinnerungsarbeit auf kollektive Geschichtsprozesse übertragen. Das
Methodenproblem wäre zu lösen durch einen diskursanalytischen Vergleich mit Aby
Warburgs „Pathosformeln“: desemantisierten Bildzeichen, die durch die Geschichte
wandern, dabei immer wieder neu codiert werden als rhetorische Figuren, die „Lei-
denschaft“ ins Bild bringen. Die Pathosformel entspricht dem Prozess traumatischer
Erinnerung nach Freud: Beide operieren über Signale, in denen die Spur einer hef-
tigen Erfahrung eingegraben scheint und als Leerform nachträglich immer wieder
aufgeladen wird. Die Herkunft der Pathosformel aus einem alten bildrhetorischen
Fundus verbürgt die Legitimität der Gebärde, so gut wie ihre aktualisierte Wieder-
verwendung das Gefühl lebendiger „Neuheit“ erregt.
Es wäre wünschenswert, die Rolle von Aby Warburg und Marcel Duchamp
strukturell zusammenzudenken. Diskursgründer sind beide, auch wenn sie die Kunst
nicht am selben Ende aufrollen. Warburg referiert das Nachträglichkeitsgesetz in der
Rezeptionsgeschichte der Kunst, während Duchamp das Nachträglichkeitsgesetz im
Produktionssystem der Kunst referiert. Warburg und Duchamp verbindet das Inter-
esse an Astrologie, an Alchemie, mithin dem hermetischen Denken. Ikonografie ent-
schlüsselt gewissermaßen die Traumgedanken der Bilder; sie entsteht in der Epoche
des Surrealismus und knüpft, wie dieser, an Auffassungen und Verfahren der Psycho-
analyse.
Die aktuellste Dimension der Pathosformel wäre die, neben den Nachträg-
lichkeiten in Kunstgeschichte und Kunstproduktion die jeweiligen Gleichzeitigkei-
ten mitzudenken. Ein dritter Verbündeter sei in diesem Zusammenhang genannt.
Zur selben Zeit, im selben Wien, wo der Psychiater Sigmund Freud über Nachträg-
lichkeit dachte, entwickelte der Kunsthistoriker Alois Riegl den Gedanken, wonach
das gegenwärtige Kunstwollen in der Vergangenheit wahlverwandte Vorgänger sucht.
Parallel zur Kunstentwicklung um 1900 sieht Riegl in der „Spätrömischen Kunstin-
dustrie“4 eine Abkehr von der figurativen Abbildung in bildplastischer Fülle, dage-
3 Hal Foster: The Return of the Real, The Avant-Garde at the End of the Century, Cambridge:
MIT Press, 1996, vor allem S. 28ff. Im Englischen mit „deferred action“ übersetzt, wird
„Nachträglichkeit“ ohne Differenzierung mit dem zentralen Begriff der „Verschiebung“ gleich-
gesetzt. Der hier diskutierte Ansatz erklärt das „Neue“ als Erinnerungsmechanismus. Mit seinem
kulturökonomischen Ansatz kommt Boris Groys zu ähnlichen Ergebnissen in: Über das Neue,
Versuch einer Kulturökonomie, München: Hanser 1992.
4 Alois Riegl: Spätrömische Kunstindustrie (1901,1927), reprint Darmstadt: Wissenschaftliche Ver-
lagsanstalt, 1973.
97
fünfziger Jahren im Sinne der nachträglichen Rückkoppelung.3 Die nachträgliche
Bearbeitung von Duchamps Ready Made-Konzept durch die Generation von Flu-
xus und Pop Art erzeugte em Doppeltes: Eine einmalige Aktion wurde durch Wie-
derholungen verewigt, so gut wie die Wiederholungen sich durch jene einmalige
Aktion eine Vergangenheit, ja Kunstgeschichte verschaffte.
Es bleibt der Einwand, man könne nicht leichtfertig einen Mechanismus indi-
vidueller Erinnerungsarbeit auf kollektive Geschichtsprozesse übertragen. Das
Methodenproblem wäre zu lösen durch einen diskursanalytischen Vergleich mit Aby
Warburgs „Pathosformeln“: desemantisierten Bildzeichen, die durch die Geschichte
wandern, dabei immer wieder neu codiert werden als rhetorische Figuren, die „Lei-
denschaft“ ins Bild bringen. Die Pathosformel entspricht dem Prozess traumatischer
Erinnerung nach Freud: Beide operieren über Signale, in denen die Spur einer hef-
tigen Erfahrung eingegraben scheint und als Leerform nachträglich immer wieder
aufgeladen wird. Die Herkunft der Pathosformel aus einem alten bildrhetorischen
Fundus verbürgt die Legitimität der Gebärde, so gut wie ihre aktualisierte Wieder-
verwendung das Gefühl lebendiger „Neuheit“ erregt.
Es wäre wünschenswert, die Rolle von Aby Warburg und Marcel Duchamp
strukturell zusammenzudenken. Diskursgründer sind beide, auch wenn sie die Kunst
nicht am selben Ende aufrollen. Warburg referiert das Nachträglichkeitsgesetz in der
Rezeptionsgeschichte der Kunst, während Duchamp das Nachträglichkeitsgesetz im
Produktionssystem der Kunst referiert. Warburg und Duchamp verbindet das Inter-
esse an Astrologie, an Alchemie, mithin dem hermetischen Denken. Ikonografie ent-
schlüsselt gewissermaßen die Traumgedanken der Bilder; sie entsteht in der Epoche
des Surrealismus und knüpft, wie dieser, an Auffassungen und Verfahren der Psycho-
analyse.
Die aktuellste Dimension der Pathosformel wäre die, neben den Nachträg-
lichkeiten in Kunstgeschichte und Kunstproduktion die jeweiligen Gleichzeitigkei-
ten mitzudenken. Ein dritter Verbündeter sei in diesem Zusammenhang genannt.
Zur selben Zeit, im selben Wien, wo der Psychiater Sigmund Freud über Nachträg-
lichkeit dachte, entwickelte der Kunsthistoriker Alois Riegl den Gedanken, wonach
das gegenwärtige Kunstwollen in der Vergangenheit wahlverwandte Vorgänger sucht.
Parallel zur Kunstentwicklung um 1900 sieht Riegl in der „Spätrömischen Kunstin-
dustrie“4 eine Abkehr von der figurativen Abbildung in bildplastischer Fülle, dage-
3 Hal Foster: The Return of the Real, The Avant-Garde at the End of the Century, Cambridge:
MIT Press, 1996, vor allem S. 28ff. Im Englischen mit „deferred action“ übersetzt, wird
„Nachträglichkeit“ ohne Differenzierung mit dem zentralen Begriff der „Verschiebung“ gleich-
gesetzt. Der hier diskutierte Ansatz erklärt das „Neue“ als Erinnerungsmechanismus. Mit seinem
kulturökonomischen Ansatz kommt Boris Groys zu ähnlichen Ergebnissen in: Über das Neue,
Versuch einer Kulturökonomie, München: Hanser 1992.
4 Alois Riegl: Spätrömische Kunstindustrie (1901,1927), reprint Darmstadt: Wissenschaftliche Ver-
lagsanstalt, 1973.