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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2003 — 2004

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I. Das Geschäftsjahr 2003
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Antrittsreden
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Hahn, Hermann H.: Antrittsrede vom 10. Mai 2003
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https://doi.org/10.11588/diglit.67592#0114
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126 | ANTRITTSREDEN

mich nicht klären können, was diese Abkunft für mich bedeutet, ob und wie sie
mich prägte. Ich vermute, dass ich eher im Unterbewussten davon beeinflusst bin, in
kompensierenden Verhaltensweisen oder Handlungen. Nachdem ich aber länger im
Ausland gelebt habe und mit meiner Frau und unseren zwei Kindern von Amerika-
nern umgeben bin, stelle ich auch mit einer gewissen Verwunderung fest, dass ich
bewusster deutsch bin oder zu sein glaube und im Alltagsverhalten, insbesondere in
der Sprache, mehr süddeutsch geprägt, aber irgendwo auch mit einigen „preußischen
Erbstücken“ belastet bin.
Mit diesen Bemerkungen über meine Familie bin ich eigentlich schon beim
zweiten Teil, der Ausbildung und dem Werdegang. In einem kleinen Fünfzig-Ein-
wohner-Bergdorf im Allgäu habe ich in einer Einzimmer-Zwergenschule meine
Ausbildung begonnen. Im Rückblick glaube ich, hier am meisten gelernt oder pro-
fitiert zu haben. Dann kam ich für neun Jahre in eine internatartige Einrichtung in
der Hauptstadt des Allgäus, in Kempten, und von dort an die Technische Hochschu-
le nach München ins Bauingenieurfach, weil der Großvater Bauingenieur bei der
Firma Siemens-Bauunion war. Schon bei der Einschreibung war ich mehr als
unglücklich über die Studienaussichten: em vollgepackter Studienplan und Fächer
ohne Farbigkeit und erkennbaren Bezug zu meinem Leben. So kam es auch, dass ich
das Studium mit einem Minimum an Präsenz und an Studienzeit absolvierte, nur um
mich dann anderem zuzuwenden. Im Nachkriegs-Aufbau-Deutschland waren aber
die Stellenangebote für einen zügig diplomierten, mit unerwartet guten Noten ver-
sehenen Bauingenieur zahlreich, und aus den anderen Dingen wäre wohl nichts
geworden, wenn ich nicht das sogenannte Weite gesucht hätte. Sicherlich etwas
beeinflusst von Sinclair Lewis habe ich mir das Leben an amerikanischen Hoch-
schulen ideal vorgestellt; ich habe mich dort beworben und ein Stipendium erhal-
ten* 2. So landete ich in Harvard, wo ich eigentlich nur em Jahr bleiben wollte, bevor
ich in einer deutschen Firma den Aufstieg vom Türplatz des Entwurfsbüros zum
Fensterplatz beginnen wollte. Aber ich war vom ersten Moment meines Aufenthal-
tes dieser Universität verfallen, der Wettbewerbsatmosphäre, der Lebensweise der
immer unter Hochspannung stehenden Universitätsangehörigen (dort wird wenig
unterschieden in hörende oder lehrende Universitätsangehörige), dem System der

da ab nur noch eine verklärte Figur darstellte. Wir verfolgen einige unserer Vorfahren bis ins
zehnte Jahrhundert auf die Insel Rügen zurück; sie konnten sich brüsten, an einem Kreuzzug
teilgenommen zu haben. Wir haben Vorfahren, die im frühen sechzehntenJahrhundert der Kan-
zel in Stuttgart verwiesen wurden, wegen unfreundlicher Bemerkungen über jüdische Bürger.
Und es ist ein Vorfahre darunter, der ein nicht nur in Berlin bekannter Maler war. Sein größter
Ruhm resultiert heute allerdings daraus, dass er Zille unterrichtete und ihn „auf die Straße
geschickt“ hat. — Seit jenen Tagen haben sich die Familienwanderungen und auch die Äußerun-
gen etwas beruhigt.
2 Übrigens erhielt ich Stipendien von drei Universitäten und als ich dann eine ausgewählt hatte
und man mich dort einmal fragte warum ich gerade diese ausgewählt hatte, antwortete ich: „Weil
das Klima dort so ähnlich sein soll, wie bei uns im Allgäu.“ Das hat die Harvardianer doch ein
wenig verletzt.
 
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