Hermann Hahn | 127
Colleges (kleinere Wohn- und Studieneinheiten zur Überwindung der Anonymität),
den vielen kulturellen Angeboten, die ich an meiner TH in München früher einmal
gesucht, aber nie gefunden habe. Um es kurz zu machen: Ich wollte dort bleiben. Ich
fand einen Professor, der mich zu einer Promotion in der „angewandten“ Kollo-
idchemie verführte („The rate-controlling Step in the coagulation of silica
suspensions with hydrolized aluminum“), wurde nach vier Jahren Lecturer und hatte
eine Position als Assistenzprofessor an der School of Public Health für
Envrionmental Engineering“ vor mir3. Können Sie sich vorstellen, dass ich Harvard
nie verlassen wollte?4
Und doch verließ ich es, weil ich parallel zum Angebot der oben zitierten Assi-
stenzprofessur an der Harvard Umversity ein Ordinariat an der Universität Karlsru-
he, die sich gerade erst von der TH in eine Universität umbenannt hatte, angeboten
bekam. Denn wer schlug damals schon eine ordentliche Professur aus? Damit bin ich
nun schon bei meiner heutigen Tätigkeit. Um zu verstehen, warum diese ein wenig
„bunt“ aussieht, muss ich vorausschicken, dass ich als 28-Jähriger das Zimmer des
damaligen Dekans der Bauingenieurfakultät in Karlsruhe betrat — zu einer Zeit als
die Dienstverträge noch eine Lehr- und Forschungstätigkeit bis zum 68-sten
Lebensjahr vorsahen und der Dekan mich mit den Worten begrüßte: „Junge, Junge,
und Sie wollen wir hier nun für vierzig Jahre verpflichten“. Dies hat dazu geführt,
dass ich schon fast von Anfang an immer wieder nach Tätigkeiten suchte, die über
das hinausgingen, was in der Ernennungsurkunde verzeichnet war. Im Vordergrund
stand aber immer die Lehre, was man vielleicht „quantifizieren“ könnte durch den
Hinweis auf fast sechshundert Diplomarbeiten (selbst gelesen und bewertet) von
Bauingenieuren, Biologen, Chemikern und Physikern und anderen Ingenieuren des
Elektrotechnik- und Maschinenbaufaches. Und ebenso heterogen oder auch „bunt“
ist die Herkunft der über 65 Forscherinnen und Forscher, deren Arbeiten ich betreu-
en durfte, von Biologen, die zur biochemischen Altlastsanierung arbeiteten, oder
Mathematikern, die die Standortoptimierung von Krankenhausabfallverbrennungs-
anlagen zu lösen versuchten. Diese Vielfalt skizziert auch die Palette der For-
3 Was erwartete man mehr vom Leben in einer Zeit, als das Buch „Mein Name sei Gantenbein“
von M. Frisch die Lektüre war?
4 Durch meine Gasteltern in Boston hatte ich Teile des Kennedy Clans kennen lernen dürfen; für
einen, der Anfang der sechziger Jahre in Deutschland studierte, war JFK immer noch em allzu
früh erloschener Stern am politischen Himmel. Ich lernte in dieser Universität alteingesessene
Mayflower-Amerikaner kennen, ich lernte von ihnen „ungebrochenes“ Geschichtsbewusstsein
zu schätzen. Viele oder sogar die meisten meiner Studienfreunde waren jüdischer Herkunft und
ihnen verdanke ich in vielerlei Hinsicht mehr als meinen deutschen Studienfreunden. Und
schließlich habe ich in Harvard als Ausländer, der quasi keiner Klasse zugehörte, viele interessan-
te Zeitgenossen kennengelernt: Durchreisende Besucher etwa, die für mich einen Teil unserer
„civilization“ darstellen, ob dies der Erzbischof von Canterbury war oder Paul Tillich, der Schau-
spieler Jean-Luis Barrault oder der Dichter Borges, der Tennisspieler Harold Ash oder der Ban-
kier David Rockefeller. Alle gaben sie Vorlesungen, waren danach oder abends bei Gesprächen
oder Einladungen zugänglich und gaben Existenzmodelle für uns Jüngere ab.
Colleges (kleinere Wohn- und Studieneinheiten zur Überwindung der Anonymität),
den vielen kulturellen Angeboten, die ich an meiner TH in München früher einmal
gesucht, aber nie gefunden habe. Um es kurz zu machen: Ich wollte dort bleiben. Ich
fand einen Professor, der mich zu einer Promotion in der „angewandten“ Kollo-
idchemie verführte („The rate-controlling Step in the coagulation of silica
suspensions with hydrolized aluminum“), wurde nach vier Jahren Lecturer und hatte
eine Position als Assistenzprofessor an der School of Public Health für
Envrionmental Engineering“ vor mir3. Können Sie sich vorstellen, dass ich Harvard
nie verlassen wollte?4
Und doch verließ ich es, weil ich parallel zum Angebot der oben zitierten Assi-
stenzprofessur an der Harvard Umversity ein Ordinariat an der Universität Karlsru-
he, die sich gerade erst von der TH in eine Universität umbenannt hatte, angeboten
bekam. Denn wer schlug damals schon eine ordentliche Professur aus? Damit bin ich
nun schon bei meiner heutigen Tätigkeit. Um zu verstehen, warum diese ein wenig
„bunt“ aussieht, muss ich vorausschicken, dass ich als 28-Jähriger das Zimmer des
damaligen Dekans der Bauingenieurfakultät in Karlsruhe betrat — zu einer Zeit als
die Dienstverträge noch eine Lehr- und Forschungstätigkeit bis zum 68-sten
Lebensjahr vorsahen und der Dekan mich mit den Worten begrüßte: „Junge, Junge,
und Sie wollen wir hier nun für vierzig Jahre verpflichten“. Dies hat dazu geführt,
dass ich schon fast von Anfang an immer wieder nach Tätigkeiten suchte, die über
das hinausgingen, was in der Ernennungsurkunde verzeichnet war. Im Vordergrund
stand aber immer die Lehre, was man vielleicht „quantifizieren“ könnte durch den
Hinweis auf fast sechshundert Diplomarbeiten (selbst gelesen und bewertet) von
Bauingenieuren, Biologen, Chemikern und Physikern und anderen Ingenieuren des
Elektrotechnik- und Maschinenbaufaches. Und ebenso heterogen oder auch „bunt“
ist die Herkunft der über 65 Forscherinnen und Forscher, deren Arbeiten ich betreu-
en durfte, von Biologen, die zur biochemischen Altlastsanierung arbeiteten, oder
Mathematikern, die die Standortoptimierung von Krankenhausabfallverbrennungs-
anlagen zu lösen versuchten. Diese Vielfalt skizziert auch die Palette der For-
3 Was erwartete man mehr vom Leben in einer Zeit, als das Buch „Mein Name sei Gantenbein“
von M. Frisch die Lektüre war?
4 Durch meine Gasteltern in Boston hatte ich Teile des Kennedy Clans kennen lernen dürfen; für
einen, der Anfang der sechziger Jahre in Deutschland studierte, war JFK immer noch em allzu
früh erloschener Stern am politischen Himmel. Ich lernte in dieser Universität alteingesessene
Mayflower-Amerikaner kennen, ich lernte von ihnen „ungebrochenes“ Geschichtsbewusstsein
zu schätzen. Viele oder sogar die meisten meiner Studienfreunde waren jüdischer Herkunft und
ihnen verdanke ich in vielerlei Hinsicht mehr als meinen deutschen Studienfreunden. Und
schließlich habe ich in Harvard als Ausländer, der quasi keiner Klasse zugehörte, viele interessan-
te Zeitgenossen kennengelernt: Durchreisende Besucher etwa, die für mich einen Teil unserer
„civilization“ darstellen, ob dies der Erzbischof von Canterbury war oder Paul Tillich, der Schau-
spieler Jean-Luis Barrault oder der Dichter Borges, der Tennisspieler Harold Ash oder der Ban-
kier David Rockefeller. Alle gaben sie Vorlesungen, waren danach oder abends bei Gesprächen
oder Einladungen zugänglich und gaben Existenzmodelle für uns Jüngere ab.