24. Mai 2003 | 41
WALTE R-WITZE NMA NN -PREIS
Thorsten Valk: „Panoptikum der Schwermut — Melancholie im Werk Goethes“
Seit der Antike haben sich Gelehrte und Künstler auf immer neue Weise mit den
unterschiedlichen Erscheinungsformen der Melancholie auseinandergesetzt. Ihre
Deutungen unterlagen dabei von Anfang an einem weitgespannten Dualismus.
Während die hippokratische Medizin um 400 vor Christus die Melancholie als eine
gefährliche Krankheit diagnostizierte, deutete sie der Aristoteles-Schüler Theophrast
als unabdingbare Voraussetzung für ingeniöse Schöpferkraft und außerordentliche
intellektuelle Leistungen. In der frühen Neuzeit bestimmten ebenfalls divergierende
Urteile die wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzung mit der Melan-
cholie: Die einen betonten ihre zersetzende und jeden Seelenfrieden untergrabende
Macht, die anderen akzentuierten ihre vergeistigende Wirkung. Albrecht Dürer hat
die gegensätzlichen Eigenschaften der Melancholie in seinem berühmten Kupfer-
stich von 1514 auf vollendete Weise zusammengefaßt. Sem Bild zeigt eine in schwer-
mütige Trauer versunkene Figur, die ihren Kopf in einer für Melancholiker charak-
teristischen Weise auf die zur Faust geballte Hand stützt. Die Körperhaltung der
Figur verweist ebenso wie der neben ihr liegende, völlig ausgehungerte Hund auf
düstere Lebensferne; der um das Haupt gewundene Kranz sowie die großen
Rückenflügel vergegenwärtigen indes die Fähigkeit zu geistiger Erhebung und
schöpferischer Produktivität. Die widersprüchlichen Seiten der Melancholie, die
Dürer in seinem Kupferstich allegorisiert hat, führten im achtzehnten Jahrhundert
erneut zu heftigen Kontroversen. Während namhafte Aufklärer die Melancholie als
lebensfeindliche Schwermut diskreditierten, verehrten Anhänger der Empfindsam-
keit in ihr eine edle Seelenstimmung, die nur den außergewöhnlichen Menschen
kennzeichne.
Der Streit um die widersprüchlichen Eigenschaften der Melancholie hat im
Werk Goethes einen bedeutenden Niederschlag gefunden. Werther undTasso, Faust
und Wilhelm Meister, der Harfner und Mignon aus den >Lehrjahren< sowie Ottilie
und Eduard aus den >Wahlverwandtschaften< — sie alle erweisen sich als melancho-
lisch veranlagte Charaktere, wobei ihre Melancholie unterschiedliche Ursachen
besitzt und aufschlußreich voneinander abweichende Symptome erkennen läßt.
Bemerkenswert ist der von der Forschung bislang ignorierte Sachverhalt, daß Goethe
seine literarischen Figuren nach ganz verschiedenartigen Melancholiekonzepten
modelliert hat, die antiken, mittelalterlichen und zeitgenössischen Traditionszusam-
menhängen entstammen. Wie systematisch diese unterschiedlichen Konzepte von
Goethe hterarisiert worden sind, möchte ich an drei Dichtungen exemplarisch vor
Augen führen: an den >Leiden des jungen Werthen, an >Torquato Tasso< und an
>Faust<.
Im >Werther< rekurriert Goethe auf em psychopathologisches Melancholie-
konzept, das vor allem gegen Ende des 18. Jahrhunderts das medizinische Denken
bestimmt. Werther erscheint zunächst als isolierter Einzelgänger, der eine spezifisch
empfindsame Melancholie kultiviert und sich auf diese Weise zum unverstandenen
Außenseiter stilisiert. Auf einsamen Wanderungen überläßt er sich seinen wehmüti-
WALTE R-WITZE NMA NN -PREIS
Thorsten Valk: „Panoptikum der Schwermut — Melancholie im Werk Goethes“
Seit der Antike haben sich Gelehrte und Künstler auf immer neue Weise mit den
unterschiedlichen Erscheinungsformen der Melancholie auseinandergesetzt. Ihre
Deutungen unterlagen dabei von Anfang an einem weitgespannten Dualismus.
Während die hippokratische Medizin um 400 vor Christus die Melancholie als eine
gefährliche Krankheit diagnostizierte, deutete sie der Aristoteles-Schüler Theophrast
als unabdingbare Voraussetzung für ingeniöse Schöpferkraft und außerordentliche
intellektuelle Leistungen. In der frühen Neuzeit bestimmten ebenfalls divergierende
Urteile die wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzung mit der Melan-
cholie: Die einen betonten ihre zersetzende und jeden Seelenfrieden untergrabende
Macht, die anderen akzentuierten ihre vergeistigende Wirkung. Albrecht Dürer hat
die gegensätzlichen Eigenschaften der Melancholie in seinem berühmten Kupfer-
stich von 1514 auf vollendete Weise zusammengefaßt. Sem Bild zeigt eine in schwer-
mütige Trauer versunkene Figur, die ihren Kopf in einer für Melancholiker charak-
teristischen Weise auf die zur Faust geballte Hand stützt. Die Körperhaltung der
Figur verweist ebenso wie der neben ihr liegende, völlig ausgehungerte Hund auf
düstere Lebensferne; der um das Haupt gewundene Kranz sowie die großen
Rückenflügel vergegenwärtigen indes die Fähigkeit zu geistiger Erhebung und
schöpferischer Produktivität. Die widersprüchlichen Seiten der Melancholie, die
Dürer in seinem Kupferstich allegorisiert hat, führten im achtzehnten Jahrhundert
erneut zu heftigen Kontroversen. Während namhafte Aufklärer die Melancholie als
lebensfeindliche Schwermut diskreditierten, verehrten Anhänger der Empfindsam-
keit in ihr eine edle Seelenstimmung, die nur den außergewöhnlichen Menschen
kennzeichne.
Der Streit um die widersprüchlichen Eigenschaften der Melancholie hat im
Werk Goethes einen bedeutenden Niederschlag gefunden. Werther undTasso, Faust
und Wilhelm Meister, der Harfner und Mignon aus den >Lehrjahren< sowie Ottilie
und Eduard aus den >Wahlverwandtschaften< — sie alle erweisen sich als melancho-
lisch veranlagte Charaktere, wobei ihre Melancholie unterschiedliche Ursachen
besitzt und aufschlußreich voneinander abweichende Symptome erkennen läßt.
Bemerkenswert ist der von der Forschung bislang ignorierte Sachverhalt, daß Goethe
seine literarischen Figuren nach ganz verschiedenartigen Melancholiekonzepten
modelliert hat, die antiken, mittelalterlichen und zeitgenössischen Traditionszusam-
menhängen entstammen. Wie systematisch diese unterschiedlichen Konzepte von
Goethe hterarisiert worden sind, möchte ich an drei Dichtungen exemplarisch vor
Augen führen: an den >Leiden des jungen Werthen, an >Torquato Tasso< und an
>Faust<.
Im >Werther< rekurriert Goethe auf em psychopathologisches Melancholie-
konzept, das vor allem gegen Ende des 18. Jahrhunderts das medizinische Denken
bestimmt. Werther erscheint zunächst als isolierter Einzelgänger, der eine spezifisch
empfindsame Melancholie kultiviert und sich auf diese Weise zum unverstandenen
Außenseiter stilisiert. Auf einsamen Wanderungen überläßt er sich seinen wehmüti-