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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2003 — 2004

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I. Das Geschäftsjahr 2003
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Antrittsreden
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Bühler, Wolfgang: Antrittsrede vom 12. Juli 2003
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https://doi.org/10.11588/diglit.67592#0131
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Wolfgang Bühler

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Semester Darstellende Geometrie mit den Bauingenieuren hören und zusammen
mit den Vermessungsingenieuren die Höhe des Stuttgarter Fernsehturms mit
erstaunlichen Ergebnissen bestimmen. Aber etwas hat mich dieses Studium mit
Kommilitonen aus ganz anderen Fakultäten gelehrt: Den Respekt für andere Fach-
disziplinen und die Einsicht, dass es in jeder Disziplin eine eigene Form der wissen-
schaftlichen Ästhetik gibt, deren Erschließung den Kern des Faches darstellt. Stau-
nend stand ich vor den Fähigkeiten der Kommilitonen des Maschinenbaus, Zusam-
menhänge zwischen Kräften, Momenten und Impulsen zu strukturieren und in
elegante Konstruktionen zu verdichten. Ohne es zu ahnen, waren es diese Erfah-
rungen, die mich — wie ich glaube — die erforderliche Offenheit für die weitere Ent-
wicklung lehrten. Schon damals erhielt ich die erste Lektion, dass eine fruchtbare
und dauerhafte interdisziplinäre Zusammenarbeit nur dann möglich ist, wenn min-
destens einer der Beteiligten auch die Sprache der anderen Disziplin beherrscht.
Viele der wissenschaftspolitisch gewollten interdisziplinären und deshalb vorrangig
geforderten Projekte fuhren nur zu Reibungsverlusten und Misserfolgen, da genau
diese Voraussetzung nicht erfüllt ist.
Der Wechsel nach dem Vordiplom an die TH München war verbunden mit
einer neuen Qualität des Studiums. Selbstverständlich gab es dort exzellente Vorle-
sungen zur reinen Mathematik. Aber wichtiger für mich war die Präsenz von Pro-
fessoren und Habilitanden, die uns in die sich damals neu entwickelnde Welt der
digitalen Rechner, der Numerik, des Operations Research und der Spieltheorie ein-
führten. Vor allem die Verknüpfung der Mathematik mit wirtschaftlichen Problemen
faszinierte mich. Die Bemerkung John von Neumanns in seiner mit Oskar Morgen-
stern verfassten Monographie „Theory of Games and Economic Behaviour“, dass
die Analysis für die Belange der Physik entwickelt, die Spieltheorie jedoch die neue
Mathematik für die Beschreibung von wirtschaftlichen Problemen mit strategisch
agierenden Personen sei, erschien mir wie eine Vision. Ich überzeugte deshalb auch
Professor Gaede, dass die Charakterisierung von Nash-Gleichgewichten in wieder-
holten Konkurrenzspielen unbedingt einer Lösung zugeführt werden müsse. Als ich
gestern wieder in dieser Arbeit blätterte, war ich verblüfft über die Verbindung von
Präzision und Unbekümmertheit, mit der ich dieses Problem damals angegangen
bin.
Nach dem Examen in München stand die nächste Entscheidung an. Zwischen
einem Angebot einer sicheren Assistentenstelle in der Mathematik und einer DFG-
fmanzierten Projektstelle entschied ich mich für die letztere an dem Lehrstuhl für
Operations Research bei Prof. Zimmermann an der RWTH Aachen. Prof. Zimmer-
mann war kurz zuvor aus den USA berufen worden und versammelte eine bunte
Truppe von Mathematikern, Wirtschaftswissenschaftlern, Wirtschaftsingenieuren,
sogar Psychologen um sich. Diese präsentierten so unterschiedliche Fachtraditionen,
dass ich als weitere Lektion lernte: Jeder Anspruch einer Fachdisziphn, allein die
Regeln guten wissenschaftlichen Arbeitens zu kennen, ist wahr und falsch zugleich.
Diese Einsicht war für mich eine große Hilfe bei der Wahrnehmung vielzähliger
Ämter in Universitätsgremien und Wissenschaftsorganisationen, in denen derartige
Konflikte nicht so entspannt wie an dem Institut in Aachen ausgetragen werden.
 
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