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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2003 — 2004

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I. Das Geschäftsjahr 2003
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Antrittsreden
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Theißen, Gerd: Antrittsrede vom 12. Juli 2003
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https://doi.org/10.11588/diglit.67592#0137
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Gerd Theißen

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Inhaltlich habe ich mich während meiner Zeit in Heidelberg auf zwei Themen
konzentriert: einerseits auf Jesus als zentrale Gestalt des Neuen Testaments, andrer-
seits auf eine Gesamtdarstellung des Urchristentums.
Meine Arbeiten zum historischen Jesus wollen zeigen, dass „Jesus“ em wenig
historischer, em wenig jüdischer und auch em wenig politischer war, als meine Leh-
rer meinten. Über Jesus schrieb ich u.a. einen semifiktionalen Roman „Der Schat-
ten des Galiläers“. In ihm sammelt em junger Jude als Spion des Pilatus Material über
Jesus. Er begegnet ihm nie, sondern muss sich (wie em moderner Historiker) aus
Überlieferungen ein Bild von ihm rekonstruieren. Er begegnet nur seinem Schatten.
Da ich nie den Ehrgeiz hatte, einen Roman zu schreiben, hatte ich beim Schreiben
vor allem die Sorge, er könne mir ästhetisch misslingen. Aber ich erhielt für ihn
einen kleinen Literaturpreis in Frankreich. Er wurde mein bekanntestes Buch.
Eine Gesamtdarstellung des Urchristentums habe ich 1998/1999 in Vorlesun-
gen in Oxford entwickelt. Ich beschrieb die „Religion der ersten Christen“ mit reli-
gionswissenschaftlichen Kategorien als eine semiotische Kathedrale, die nicht aus
Steinen, sondern aus Zeichen erbaut wurde: aus Texten, Bildern, Riten und Verhal-
tensweisen. Sie ist wie alle Kathedralen ganz und gar von Menschen gemacht, aber
man versteht sie nur, wenn man weiß, dass sie dazu erbaut wurde, um Gott zu ver-
ehren.
Ich arbeite zur Zeit an einer Ethik des Urchristentums, die zeigen soll, dass
urchristliches Ethos eine Synthese von biblischer Gebotsethik und antiker Einsichts-
ethik ist. Wir verdanken diesen beiden Traditionen Grundwerte, die bis heute gelten:
Rationalität und Nächstenliebe, Autonomie und Barmherzigkeit.
Diese Ethik habe ich schon vor langer Zeit, als ich noch Lehrer war, in eine
allgemeine Theorie menschlicher Kultur einzuordnen versucht. Die Grundthese ist:
Kulturelle Evolution ermöglicht durch Technik, Wissen und Solidarität Leben auch
dort, wo es unter natürlichen Umständen nicht möglich wäre. Auf eine Formel
gebracht: Kultur reduziert Selektionsdruck. Die Religionen kodieren in ihren Zei-
chensprachen dies Programm und motivieren dazu, ihm in Krisen treu zu bleiben.
Buddhismus und Christentum zeichnen sich für mich durch einen dezidierten Anti-
selektionismus aus, der Buddhismus, indem er den Lebensdurst überwinden, das
Christentum, indem es ihn in Liebe verwandeln will. Beiden schwebt als Ziel vor,
dass Leben nicht auf Kosten anderen Lebens lebt.
Mit all dem setze ich Traditionen der liberalen Theologie von Lessing bis
Albert Schweitzer, den ich soeben heimlich zitiert habe, fort. Ihr Programm ist: Auf-
klärung in der Religion über die Religion zu schaffen — und nicht gegen die Reli-
gion, wie das oft geschieht. Ich mache mir keine Illusionen darüber, dass wir von die-
sem Ziel weit entfernt sind. Aber ich hoffe, mit meinem Lebenswerk ein wenig zu
diesem Projekt beigetragen zu haben. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
 
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