Hartmut Esser
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der Soziologie, von einiger Bedeutung waren. Neun Jahre Latein und sechs Jahre Alt-
griechisch hinterließen nämlich wenigstens so viel an Spuren, dass die Übersetzung
und De-Mythologisierung jener zahllosen Kunstworte nicht schwer fiel, für die der
soziologische Jargon, aber nicht nur der, nach wie vor berüchtigt ist. Das durch den
Militärdienst gegebene Moratorium wiederum eröffnete die Möglichkeit, die Wahl
des Studienfaches gezielter vorzunehmen als das angesichts der sonst wohl nicht
unüblichen Unentschlossenheit und Indifferenz wohl möglich gewesen wäre.Vorher
in der Schule hatten meine Vorlieben immer zwischen Fächern wie Geschichte und
Philosophie einerseits und Physik und Mathematik andererseits geschwankt, aber
meine Eltern hätten, man konnte sie verstehen, es gerne gesehen, dass man Medizin
oder wenigstens Jura, notfalls auch etwa Maschinenbau oder Vermessungswesen, stu-
diere. Im Laufe der immer noch eher ungezielten Suche nach einer Lösung des Pro-
blems stieß ich auf ein berufskundliches Heft, das eine Wissenschaft beschrieb, die
u.a. als „physique social“ gekennzeichnet wurde. Es war jedenfalls aus heutiger Sicht
eine äußerst kluge und auch seltene, mich sofort elektrisierende, Beschreibung des
Gegenstandes und der Studienelemente eines als Soziologie bezeichneten Faches, das
ich bis dahin eigentlich nur nebenbei und dann in eher sozial-engagierten, philoso-
phischen oder gar theologischen, jedenfalls mir für den Zweck der Erklärung gesell-
schaftlicher Vorgänge entschieden zu spekulativen, zu „betroffenen“ und auch oft
allzu undurchsichtigen Zusammenhängen wahrgenommen hatte. Meine Eltern fie-
len fast in Ohnmacht, als sie von meinem mit Nachdruck vorgebrachten und mit
einigem Enthusiasmus garnierten Entschluss erfuhren, und sie schwankten in ihren
Assoziationen zwischen Caritas und Kommunismus, was, wie sich später, etwa in den
aktuelleren Debatten über den Kommunitarismus, zeigte, so falsch ja nicht war.
Genau das war es aber beides nicht, was mich zu diesem seltsamen Fach zog, son-
dern die Perspektive, — endlich - über die gesellschaftlichen und historischen Vor-
gänge in ähnlich stringenter, transparenter, kritikfähiger und kumulativer Weise etwas
sagen zu können, wie das die Naturwissenschaften für ihre Fragen so eindrucksvoll,
wie ich meinte und immer noch meine, vorführten. Das berufskundhche Heft, es
war wirklich außergewöhnlich, hielt dann auch noch eine weitere folgenreiche
Empfehlung bereit, nämlich die, dass, wenn man die Soziologie in der Tradition jener
physique social studieren wolle, man das am besten in Köln könne, was einerseits für
mich nicht nur logistisch, sondern auch linguistisch nahe lag, andererseits aber sich
mit der — erneut etwas überraschenden und zunächst eher bedrohlichen — Notwen-
digkeit verband, dort dann überwiegend Volkswirtschaft studieren zu müssen, und
dass daher die Soziologie als eines von sechs Fächern dort eher eine marginale
Bedeutung habe.
Dass dies in der faktischen Gewichtung ganz anders sein würde, erwies sich
freilich bald, und es war insbesondere die imponierende Figur von Rene König, die
dafür sorgte. Sem „Königreich“ von einem knappen Dutzend Assistenten, wie es in
der großen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu
Köln nicht nur anerkennend hieß, war damals weit darüber hinaus das Zentrum der
beginnenden empirisch-analytischen Soziologie in der Bundesrepublik, und im
damals dann gleich einsetzenden Positivismusstreit in der deutschen Soziologie war
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der Soziologie, von einiger Bedeutung waren. Neun Jahre Latein und sechs Jahre Alt-
griechisch hinterließen nämlich wenigstens so viel an Spuren, dass die Übersetzung
und De-Mythologisierung jener zahllosen Kunstworte nicht schwer fiel, für die der
soziologische Jargon, aber nicht nur der, nach wie vor berüchtigt ist. Das durch den
Militärdienst gegebene Moratorium wiederum eröffnete die Möglichkeit, die Wahl
des Studienfaches gezielter vorzunehmen als das angesichts der sonst wohl nicht
unüblichen Unentschlossenheit und Indifferenz wohl möglich gewesen wäre.Vorher
in der Schule hatten meine Vorlieben immer zwischen Fächern wie Geschichte und
Philosophie einerseits und Physik und Mathematik andererseits geschwankt, aber
meine Eltern hätten, man konnte sie verstehen, es gerne gesehen, dass man Medizin
oder wenigstens Jura, notfalls auch etwa Maschinenbau oder Vermessungswesen, stu-
diere. Im Laufe der immer noch eher ungezielten Suche nach einer Lösung des Pro-
blems stieß ich auf ein berufskundliches Heft, das eine Wissenschaft beschrieb, die
u.a. als „physique social“ gekennzeichnet wurde. Es war jedenfalls aus heutiger Sicht
eine äußerst kluge und auch seltene, mich sofort elektrisierende, Beschreibung des
Gegenstandes und der Studienelemente eines als Soziologie bezeichneten Faches, das
ich bis dahin eigentlich nur nebenbei und dann in eher sozial-engagierten, philoso-
phischen oder gar theologischen, jedenfalls mir für den Zweck der Erklärung gesell-
schaftlicher Vorgänge entschieden zu spekulativen, zu „betroffenen“ und auch oft
allzu undurchsichtigen Zusammenhängen wahrgenommen hatte. Meine Eltern fie-
len fast in Ohnmacht, als sie von meinem mit Nachdruck vorgebrachten und mit
einigem Enthusiasmus garnierten Entschluss erfuhren, und sie schwankten in ihren
Assoziationen zwischen Caritas und Kommunismus, was, wie sich später, etwa in den
aktuelleren Debatten über den Kommunitarismus, zeigte, so falsch ja nicht war.
Genau das war es aber beides nicht, was mich zu diesem seltsamen Fach zog, son-
dern die Perspektive, — endlich - über die gesellschaftlichen und historischen Vor-
gänge in ähnlich stringenter, transparenter, kritikfähiger und kumulativer Weise etwas
sagen zu können, wie das die Naturwissenschaften für ihre Fragen so eindrucksvoll,
wie ich meinte und immer noch meine, vorführten. Das berufskundhche Heft, es
war wirklich außergewöhnlich, hielt dann auch noch eine weitere folgenreiche
Empfehlung bereit, nämlich die, dass, wenn man die Soziologie in der Tradition jener
physique social studieren wolle, man das am besten in Köln könne, was einerseits für
mich nicht nur logistisch, sondern auch linguistisch nahe lag, andererseits aber sich
mit der — erneut etwas überraschenden und zunächst eher bedrohlichen — Notwen-
digkeit verband, dort dann überwiegend Volkswirtschaft studieren zu müssen, und
dass daher die Soziologie als eines von sechs Fächern dort eher eine marginale
Bedeutung habe.
Dass dies in der faktischen Gewichtung ganz anders sein würde, erwies sich
freilich bald, und es war insbesondere die imponierende Figur von Rene König, die
dafür sorgte. Sem „Königreich“ von einem knappen Dutzend Assistenten, wie es in
der großen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu
Köln nicht nur anerkennend hieß, war damals weit darüber hinaus das Zentrum der
beginnenden empirisch-analytischen Soziologie in der Bundesrepublik, und im
damals dann gleich einsetzenden Positivismusstreit in der deutschen Soziologie war