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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2003 — 2004

DOI Kapitel:
I. Das Geschäftsjahr 2003
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Antrittsreden
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Fiedler, Klaus: Antrittsrede vom 13. Dezember 2003
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https://doi.org/10.11588/diglit.67592#0148
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ANTRITTSREDEN

Gedächtnistest werden zu wenige positive Verhaltensweisen als zugehörig zur Mino-
rität erinnert.
So lässt sich em bekanntes Phänomen, die Abwertung von Minoritäten, unter
kontrollierten experimentellen Bedingungen herstellen, obwohl gar keine Vorurtei-
le und Ressentiments vorhanden sind und die Minorität ebenso angepasstes Verhal-
ten zeigt wie die Majorität. Der einzige Nachteil der Minorität liegt in der geringe-
ren Zahl der Beobachtungen bzw. der kleineren Gruppengröße. Hätte die Umwelt
doppelt oder dreimal so viele Beobachtungen über die gleiche Gruppe angeboten,
wäre sie gleich gut oder gar besser als die andere Gruppe beurteilt worden.
Wie kann man dieses merkwürdige Phänomen verstehen, das im übrigen viel-
fach repliziert ist? - Nun, es beruht aus einem ganz einfachen Lerngesetz. Die
Umwelt bietet einfach mehr Gelegenheiten an, um die vorherrschende Tendenz zur
Positivität für die Majorität zu lernen als für die Minorität. Und da Lernkurven
monoton nut der Zahl der Lerngelegenheiten ansteigen, ist die Minorität im Nach-
teil. Majoritäten profitieren von der größeren Zahl der Lernmöglichkeiten. So ein-
fach erklärt sich, dass allein die größere Dichte und Häufigkeit an Informationen,
welche die Umwelt anbietet, so ein brisantes Phänomen wie die Abwertung von
Minoritäten aufklärt.Vorurteile, Hass, Angst, negative Erwartungen und all die ande-
ren plausiblen Ursachen, die traditionell angenommen werden, sind keine notwen-
dige Bedingung.
Das gleiche abstrakte Prinzip — die unterschiedliche Dichte von Beobachtun-
gen in der Umwelt — kann viele andere Phänomene erklären. Selbsturteile fallen
allem deshalb positiver aus, weil wir über uns selbst mehr Beobachtungen sammeln
als über andere — vorausgesetzt natürlich, positives Verhalten überwiegt. Ebenso wird
die eigene Gruppe, der man angehört, allem deshalb anders beurteilt und bewertet
als fremde Gruppen, weil in der Regel unterschiedlich viele Beobachtungen über
Eigengruppe und Fremdgruppe bekannt sind. Oder man kann erklären, warum sich
manchmal Hypothesen selbst bestätigen. Man kann zum Beispiel zeigen, dass Lehrer
deshalb glauben, Jungen seien besser in Mathematik und Mädchen seien besser in
Sprachen, weil sie Jungen in Mathematik und Mädchen in Sprachen häufiger dran-
nehmen und weil Schüler, die sich melden und drankommen, meist die richtige Ant-
wort wissen. Bringt man Lehrer im Experiment dazu, mehr Mädchen in Mathema-
tik und mehr Jungen in Sprachen dranzunehmen, gelangen sie auf einmal zu dem
umgekehrten Schluss. Stereotypen und Vorerwartungen werden durch das simple
Prinzip der Häufigkeit von Beobachtungen in der Lernumgebung überdeckt.
Solche einfachen ungewöhnlichen Erklärungen, die von traditionellen
Erklärungsansätzen abweichen, sind sehr unbeliebt; sie bekommen Widerstandser-
fahrung zu spüren. Aber oft setzen sie sich am Ende durch und können eine große
Erklärungskraft entwickeln. Diese sehr erbauliche Erfahrung konnte ich gelegentlich
sammeln.
Abgesehen von meiner Rolle als Querulant, der sich mit ungewohnten und oft
abstrakten, konnektiomstischen Theorien zuweilen unbeliebt macht, habe ich in den
letzten Jahren fast so etwas wie eine zweite Identität als angewandter Psychologe
erworben, nämlicher als Sachverständiger in strafrechtlichen Grundsatzfragen, der
 
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