Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2004 — 2004

DOI Kapitel:
I. Das Geschäftsjahr 2004
DOI Kapitel:
Wissenschaftliche Sitzungen
DOI Kapitel:
Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 27. November 2004
DOI Artikel:
Theißen, Gerd: Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.66960#0086
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
98 | SITZUNGEN

Aber erst die Sammlung seiner Briefe nach dem Modell antiker Briefsammlungen
machte seine Briefe zu Literatur. Paulus und der Mk-Evangelist schufen somit die
beiden Grundformen der urchristlichen Literatur, indem sie den öffentlichen
Anspruch ihrer Verkündigung in Anlehnung an eine politische Botschaft artikulier-
ten.
Die pseudepigraphe Phase: Als die Autoritäten der ersten Generation ausgestor-
ben waren, schrieb man entweder in ihrem Namen Briefe oder griff direkt auf die
Autorität Jesu zurück, indem man Evangelien verfasste. Das ist z.T. ein Bruch mit der
schöpferischen Phase des Anfangs. Die damals entstandenen Briefe sind fiktive
Selbstauslegung des Paulus. Man konnte z.B. nicht leugnen, dass Paulus verlangt
hatte, Sklaven als Brüder zu behandeln (Phlm). Daher musste der fiktive Paulus ein-
schärfen, dass Sklaven ihre Herren respektieren (Kol 3,22-25). Die späteren Evange-
lien sind fiktive Selbstauslegung Jesu: Jesus offenbart sich im JohEv als Bote der
Liebe, im ThomEv als Vermittler höherer Erkenntnis — beide gehen weit über das
hinaus, was die synoptischen Evangelien von Jesus sagen. Konnten wir in der ersten
Phase die Aneignung von Oberschichtformen durch literaturferne Kreise beobach-
ten, so zeigt die pseudepigraphe Phase das Eindringen der mündlichen Kultur ein-
facher Menschen in die neu entstehende Literatur. Das Botenbewusstsein der Auto-
ren (die Autoren sprechen an der Stelle von Paulus oder Jesus) und die begrenzte
Gattungskompetenz der Adressaten (sie akzeptieren die Autorität eines Autors, aber
nicht die Autorität der Form) ermöglichten Fälschungen mit erstaunlich gutem
Gewissen.
Die funktionale Phase: Hebr, Apg und Apk sind Ausdruck einer Tendenz zu
funktionalen Gattungen. Die Autorität der Form ergänzt in ihnen die Autorität der
Autoren: Im Hebr liegt eine in sich gerundete Rede vor, die Apg ist ein historio-
graphisches Werk, die Apk ein Offenbarungsbuch. Diese Schriften hatten eine Chan-
ce, durch ihre Gattung Ansehen zu gewinnen. Die nicht-kanonische urchristliche
Literatur setzte diese Tendenz fort. In den Kanon gelangten nur drei Schriften
von ihnen — auch sie nicht allein aufgrund ihrer Form. Der Hebr wurde im Schlepp-
tau der Paulusbriefe, die Apg im Schlepptau des LkEv, die Apk im Schlepptau des
corpus johanneum kanonisiert.
Die kanonische Phase: Die Kanonbildung bestand aus einem Kompromiss zwi-
schen kleinasiatischen Gemeinden und Rom, der sich unabhängig von Markions
Kanon gebildet hat. Die Ablehnung des (aus einem Evangelium und zehn Paulus-
briefen bestehenden) Kanons Markions bestärkte den Konsens über vier Evangelien
statt eines einzigen, den Konsens über die Briefe mehrerer Apostel statt nur der Pau-
lusbriefe und über zwei Testamente; gegen Markion hielt man am Alten Testament
fest. Markions Kanon diente nicht als positives Vorbild für den Kanon, sondern als
negatives Modell und Katalysator für die Kanonbildung.
Die ersten Christen haben aufgrund eines schöpferischen Impulses durch zwei
Charismatiker, Jesus und Paulus, zwei literarische Grundformen hervorgebracht,
diese durch eine fiktive Selbstauslegung der ersten Autoritäten weitergeschrieben,
ansatzweise verschiedene funktionale Formen entwickelt und den Kanon mit einer
großen inneren Pluralität geschaffen. Die vier Phasen spiegeln den Weg von den cha-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften