1L Dezember 2004
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rismatischen Anfängen zu einer Kirche mit innerer Vielfalt. Die Formensprache des
NT entsprach somit der geschichtlichen Dynamik des Urchristentums. Die neu-
testamentlichen Schriften sind grenzüberschreitende Literatur, in der die Grenze
zwischen Charisma und Institution, Unter- und Oberschicht, Juden- und Heiden-
tum überschritten wurde. Man merkt ihr an: Es war die Literatur einer kleinen Sub-
kultur, die der Anfang einer neuen Menschheit sein wollte.
Gesamtsitzung am 11. Dezember 2004
WISSENSCHAFTLICHE SITZUNG
Herr Matthias Kreck hält einen Vortrag: „Was ist Wahrheit in der Mathematik?“.
Über das Wahrheitsthema habe ich vor einigen Jahren angefangen nachzudenken,
nachdem ich ein Buch über die Geschichte der Mathematik des 20. Jahrhunderts
gelesen habe, in dem David Hilbert, der große Mathematiker der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts, eine große Rolle gespielt hat. Hilberts Vorstellungen zu den
Grundlagen der Mathematik haben meine eigenen Gedanken angeregt. Was ich vor-
trage, beruht ausschließlich auf eigenen Überlegungen. Erst später habe ich bemerkt,
wie viel Literatur es zu diesem Thema gibt und habe inzwischen das eine oder ande-
re gelesen. Meine Sicht der Dinge hat sich dadurch kaum verändert.
Wahrheit habe ich zunächst ausschließlich auf den Wahrheitsgehalt mathema-
tischer Sätze bezogen und diesen an der Beweisbarkeit festgemacht. Was ein Beweis
ist, habe ich an dem kleinen Satz: „Die Wurzel aus 2 ist eine irrationale Zahl“
demonstriert und anschließend hinterfragt, ob so ein Beweis als Begründung für den
Wahrheitsgehalt eines Satzes ausreicht. Dazu müssen vorher die in der Aussage vor-
kommenden Begriffe, insbesondere der Zahlbegriff, geklärt sein. Auch wenn vor 100
Jahren niemand daran Zweifel geäußert hat, dass man die natürlichen Zahlen, also 0,
1, 2, ... logische einwandfrei konstruieren kann, so wurden doch Versuche unter-
nommen, dies explizit durchzuführen. Es geht dabei um die Charakterisierung der
natürlichen Zahlen, z. B. durch die Peano Axiome bzw. ihre Konstruktion. Dies stell-
te sich als schwieriger als erwartet heraus. Im Jahr 1931 passierte dann die Sensation,
als Goedel bewies, dass so etwas nicht durchführbar ist. Sein Unvollständigkeitstheo-
rem lautet: Es existiert keine konsistente Axiomatisierung der Arithmetik, die voll-
ständig ist.
Eigentlich hätte dieses Resultat zu einer großen Verunsicherung der Mathe-
matiker führen müssen, aber das war nicht der Fall. Hilbert, der fest davon überzeugt
war, dass eine vollständige Formalisierung der Mathematik möglich ist, war dabei sel-
ber eine große Stütze, denn parallel zur Vision einer Beweistheorie hatte er einen
pragmatischen Umgang mit der Mathematik vorgeschlagen, indem er anregte, neue
Theorien zu entwickeln, ohne allzu streng zu formalisieren. Bei diesem Prozess wür-
den sich eventuelle Inkonsistenzen rasch zeigen, und erlauben, die Theorie zu modi-
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rismatischen Anfängen zu einer Kirche mit innerer Vielfalt. Die Formensprache des
NT entsprach somit der geschichtlichen Dynamik des Urchristentums. Die neu-
testamentlichen Schriften sind grenzüberschreitende Literatur, in der die Grenze
zwischen Charisma und Institution, Unter- und Oberschicht, Juden- und Heiden-
tum überschritten wurde. Man merkt ihr an: Es war die Literatur einer kleinen Sub-
kultur, die der Anfang einer neuen Menschheit sein wollte.
Gesamtsitzung am 11. Dezember 2004
WISSENSCHAFTLICHE SITZUNG
Herr Matthias Kreck hält einen Vortrag: „Was ist Wahrheit in der Mathematik?“.
Über das Wahrheitsthema habe ich vor einigen Jahren angefangen nachzudenken,
nachdem ich ein Buch über die Geschichte der Mathematik des 20. Jahrhunderts
gelesen habe, in dem David Hilbert, der große Mathematiker der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts, eine große Rolle gespielt hat. Hilberts Vorstellungen zu den
Grundlagen der Mathematik haben meine eigenen Gedanken angeregt. Was ich vor-
trage, beruht ausschließlich auf eigenen Überlegungen. Erst später habe ich bemerkt,
wie viel Literatur es zu diesem Thema gibt und habe inzwischen das eine oder ande-
re gelesen. Meine Sicht der Dinge hat sich dadurch kaum verändert.
Wahrheit habe ich zunächst ausschließlich auf den Wahrheitsgehalt mathema-
tischer Sätze bezogen und diesen an der Beweisbarkeit festgemacht. Was ein Beweis
ist, habe ich an dem kleinen Satz: „Die Wurzel aus 2 ist eine irrationale Zahl“
demonstriert und anschließend hinterfragt, ob so ein Beweis als Begründung für den
Wahrheitsgehalt eines Satzes ausreicht. Dazu müssen vorher die in der Aussage vor-
kommenden Begriffe, insbesondere der Zahlbegriff, geklärt sein. Auch wenn vor 100
Jahren niemand daran Zweifel geäußert hat, dass man die natürlichen Zahlen, also 0,
1, 2, ... logische einwandfrei konstruieren kann, so wurden doch Versuche unter-
nommen, dies explizit durchzuführen. Es geht dabei um die Charakterisierung der
natürlichen Zahlen, z. B. durch die Peano Axiome bzw. ihre Konstruktion. Dies stell-
te sich als schwieriger als erwartet heraus. Im Jahr 1931 passierte dann die Sensation,
als Goedel bewies, dass so etwas nicht durchführbar ist. Sein Unvollständigkeitstheo-
rem lautet: Es existiert keine konsistente Axiomatisierung der Arithmetik, die voll-
ständig ist.
Eigentlich hätte dieses Resultat zu einer großen Verunsicherung der Mathe-
matiker führen müssen, aber das war nicht der Fall. Hilbert, der fest davon überzeugt
war, dass eine vollständige Formalisierung der Mathematik möglich ist, war dabei sel-
ber eine große Stütze, denn parallel zur Vision einer Beweistheorie hatte er einen
pragmatischen Umgang mit der Mathematik vorgeschlagen, indem er anregte, neue
Theorien zu entwickeln, ohne allzu streng zu formalisieren. Bei diesem Prozess wür-
den sich eventuelle Inkonsistenzen rasch zeigen, und erlauben, die Theorie zu modi-