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SITZUNGEN
fizieren oder sogar aufzugeben. Als Gödel seinen Satz bewies, hatte sich diese prag-
matische Haltung bereits durchgesetzt. Man nahm Gödels Ergebnis gelassen auf, wie
an der folgenden Reaktion Hermann Weyls deutlich wird: „Gott existiert, da die
Mathematik konsistent ist, und der Teufel existiert, da wir die Konsistenz nicht
beweisen können.“
Bisher hatte ich den Wahrheitsbegriff sehr grundsätzlich diskutiert und ganz
streng gefragt, ob man die Grundlagen der Mathematik auf ganz sicheren Funda-
menten aufbauen und eine Beweistheorie machen kann. Es kann nicht überraschen,
dass die mathematische Praxis von solchen grundsätzlichen Fragen nicht stark
berührt ist. Die Wirklichkeit sieht nämlich so aus, dass schon bei vergleichsweise
„einfachen“ Sätzen formale Beweise so langweilig werden, dass kein Mensch die
Geduld aufbringt, sie nachzuvollziehen.
Wenn man in mathematische Zeitschriften schaut, wird man keine Arbeit fin-
den, in der nach den Regeln der Logik bewiesen wird. Die Arbeiten sind ver-
gleichsweise kurz und nicht formal. Wenn man zum Beispiel in eine der berühmte-
sten Arbeiten überhaupt schaut, nämlich die von Wiles über Fermats letzten Satz, so
ist diese Arbeit mit über 100 Seiten zwar unverhältnismäßig lang, aber man wird
dort, wenn ich mich nicht täusche, an keiner Stelle ein formales Argument finden,
das die oben dargestellten Regeln explizit verwendet. Die Arbeit sieht eher wie em
Prosatext mit eingestreuten seltsamen Formeln und Diagrammen aus.
Woher nimmt dann der Mathematiker das Recht, zu behaupten, dass mathe-
matische Sätze wahr sind? Meine persönliche Meinung dazu will ich in sechs The-
sen zusammenfassen:
1. Mathematische Sätze sind wahr, weil sich die Mathematiker darüber einigen.
2. Mathematische Sätze sind wahr, weil es im Falle von Uneinigkeit als „letzte
Instanz“ die Möglichkeit formaler Argumente gibt (allerdings mit der gödelschen
Einschränkung, dass es unentscheidbare Fragen gibt).
3. Mathematische Sätze sind wahr, weil ein allgemeiner Satz durch ein einziges
Gegenbeispiel widerlegt werden kann.
4. Mathematik ist vergleichbar mit einem hohen Gebäude, wo jeder Baustein einem
Satz entspricht. Dies Gebäude hat eine sehr sensible Statik und vollendete Ästhe-
tik. Em falsch gesetzter Stein stört die Ästhetik und erzeugt deshalb Misstrauen.
Außerdem entsteht wegen der sensiblen Statik sofort Einsturzgefahr für das
gesamte Gebäude.
5. Mathematiker sind zwar bis auf die Notwendigkeit, Inkonsistenzen zu vermeiden,
frei in der Konstruktion ihrer Gegenstände, aber die Mathematiker interessieren
sich in der Regel nur für Objekte, die an der Wirklichkeit modelliert sind. Es geht
um „Zahlen“ (Zahlentheone), um „Räume“ (Geometrie und Topologie), es geht
um „Bewegungen“ (Differentialgleichungen), es geht um „Symmetrien“ (Algebra,
Geometrie, Topologie). Insofern genießt die Mathematik einen Teil des Schutzes,
den die Physik hat, nämlich eine gewisse Kontrolle durch die Wirklichkeit!
6. Es gibt eine einigermaßen funktionierende Ethik unter den Mathematikern. Wer
allzu leichtfertig Sätze behauptet und „beweist“, die sich als falsch herausstellen,
SITZUNGEN
fizieren oder sogar aufzugeben. Als Gödel seinen Satz bewies, hatte sich diese prag-
matische Haltung bereits durchgesetzt. Man nahm Gödels Ergebnis gelassen auf, wie
an der folgenden Reaktion Hermann Weyls deutlich wird: „Gott existiert, da die
Mathematik konsistent ist, und der Teufel existiert, da wir die Konsistenz nicht
beweisen können.“
Bisher hatte ich den Wahrheitsbegriff sehr grundsätzlich diskutiert und ganz
streng gefragt, ob man die Grundlagen der Mathematik auf ganz sicheren Funda-
menten aufbauen und eine Beweistheorie machen kann. Es kann nicht überraschen,
dass die mathematische Praxis von solchen grundsätzlichen Fragen nicht stark
berührt ist. Die Wirklichkeit sieht nämlich so aus, dass schon bei vergleichsweise
„einfachen“ Sätzen formale Beweise so langweilig werden, dass kein Mensch die
Geduld aufbringt, sie nachzuvollziehen.
Wenn man in mathematische Zeitschriften schaut, wird man keine Arbeit fin-
den, in der nach den Regeln der Logik bewiesen wird. Die Arbeiten sind ver-
gleichsweise kurz und nicht formal. Wenn man zum Beispiel in eine der berühmte-
sten Arbeiten überhaupt schaut, nämlich die von Wiles über Fermats letzten Satz, so
ist diese Arbeit mit über 100 Seiten zwar unverhältnismäßig lang, aber man wird
dort, wenn ich mich nicht täusche, an keiner Stelle ein formales Argument finden,
das die oben dargestellten Regeln explizit verwendet. Die Arbeit sieht eher wie em
Prosatext mit eingestreuten seltsamen Formeln und Diagrammen aus.
Woher nimmt dann der Mathematiker das Recht, zu behaupten, dass mathe-
matische Sätze wahr sind? Meine persönliche Meinung dazu will ich in sechs The-
sen zusammenfassen:
1. Mathematische Sätze sind wahr, weil sich die Mathematiker darüber einigen.
2. Mathematische Sätze sind wahr, weil es im Falle von Uneinigkeit als „letzte
Instanz“ die Möglichkeit formaler Argumente gibt (allerdings mit der gödelschen
Einschränkung, dass es unentscheidbare Fragen gibt).
3. Mathematische Sätze sind wahr, weil ein allgemeiner Satz durch ein einziges
Gegenbeispiel widerlegt werden kann.
4. Mathematik ist vergleichbar mit einem hohen Gebäude, wo jeder Baustein einem
Satz entspricht. Dies Gebäude hat eine sehr sensible Statik und vollendete Ästhe-
tik. Em falsch gesetzter Stein stört die Ästhetik und erzeugt deshalb Misstrauen.
Außerdem entsteht wegen der sensiblen Statik sofort Einsturzgefahr für das
gesamte Gebäude.
5. Mathematiker sind zwar bis auf die Notwendigkeit, Inkonsistenzen zu vermeiden,
frei in der Konstruktion ihrer Gegenstände, aber die Mathematiker interessieren
sich in der Regel nur für Objekte, die an der Wirklichkeit modelliert sind. Es geht
um „Zahlen“ (Zahlentheone), um „Räume“ (Geometrie und Topologie), es geht
um „Bewegungen“ (Differentialgleichungen), es geht um „Symmetrien“ (Algebra,
Geometrie, Topologie). Insofern genießt die Mathematik einen Teil des Schutzes,
den die Physik hat, nämlich eine gewisse Kontrolle durch die Wirklichkeit!
6. Es gibt eine einigermaßen funktionierende Ethik unter den Mathematikern. Wer
allzu leichtfertig Sätze behauptet und „beweist“, die sich als falsch herausstellen,