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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2005 — 2006

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I. Das Geschäftsjahr 2005
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Jahresfeier am 21. Mai 2005
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Stierle, Karlheinz: Zeitgestalten - Figurationen der Zeitlichkeit in Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"
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https://doi.org/10.11588/diglit.67593#0025
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JAHRESFEIER

kommen. Darm liegt die Paradoxie des Zeitbewußtseins, zugleich nach Gestalten zu
verlangen und doch in diesen nicht aufgehen zu können.
Proust, der Zeitplastiker, gibt dem Abstractum Zeit die Plastizität von Zeitge-
stalten und fuhrt diese zu einer Zeitgestalt aus Zeitgestalten zusammen, in der die
Zeit selbst in einer schwindelerregenden Komplexität zur Anschauung kommt.
„Longtemps“, lange Zeit, beginnt der erste Satz der Recherche, der zugleich ihr
kürzester und in seiner Unscheinbarkeit einer der bedeutungsreichsten ist: „Long-
temps, je me suis couche de bonne heure“ (Lange Zeit habe ich mich früh schlafen
gelegt.).3 Dies ist zugleich die erste Zeitgestalt des Werks, das mit longtemps beginnt
und dessen letztes Wort, in Majuskel hervorgehoben, „le Temps“ heißt. Dazwischen
entfaltet sich, auf Tausenden von Seiten, das Zeitkunstwerk als literarische Antwort
auf Augustins Frage: „Was also ist die Zeit?“.
Der erste Satz führt uns in die Ursituation von Marcels Begegnung mit der ver-
sunkenen und dennoch nicht verlorenen Zeit. Marcels Urszene der Erinnerung spielt
Nacht für Nacht im dunklen Zimmer, in dem zwischen Schlaf und Schlaflosigkeit,
Traum, Tagtraum und Erwachen die Erinnerung eine teils phantastische teils die ver-
gangene Wirklichkeit freilegende Kohärenz gewinnt. Aus frei flottierenden Elemen-
ten schließen sich so die ersten, frühesten Erinnerungsinseln zusammen, in denen die
Erinnerungen der frühesten Kindheit und ihrer „kindlichen Schrecken“4 5 gerettet
sind. Proust bildet Zeitsummen und verdichtet die Zeit in Zeitgehäusen, in denen die
Zeitgestalten ihren Ort haben. Das Werk setzt sich im wesentlichen aus solchen Zeit-
summen und anwachsenden Zeitsprüngen zusammen. Während aber die Darstellung
innerhalb der Zeitgehäuse keiner linearen Zeitordnung folgt, stehen die Zeitgehäuse
selbst in einer linearen Zeitordnung von frühester Kindheit bis zur Schwelle des
Alters, doch sind sie zugleich im Sinne eines interaktiven Palimpsests gegeneinander
durchlässig, so daß sich dadurch ein unabsehbarer Spielraum für vertikale Wieder-
holungsstrukturen und metaphorische Spiegelungen ergibt.
Das Zeitdrama, das sich jede Nacht im Bewußtsein des Schlaflosen abspielt,
dem nur kurze Intervalle des Schlafs gegönnt sind, steht in der Spannung von uner-
hörter Elastizität der erfahrenen und der von Stunde zu Stunde, von Minute zu
Minute vergehenden objektiven Zeit. Die Zeit des Zeitgehäuses ‘longtemps’ folgt
nicht der linearen Zeit, wohl aber steht das Ganze dieser Zeit unter der sekundären
Zeitordnung einer einzigen Nacht vom frühen Abend bis zum frühen Morgen. Die
Zeit dehnt sich und zieht sich zusammen, sie wird zum Kaleidoskop der Zeiten, sie
wird zur das halbwache Bewußtsein umkreisenden Jederzeitlichkeit und so zugleich
zum magischen Stuhl phantastischer Zeitreisen. Im Herzen dieser wechselnden Zeit-
gestalten aber steht die sich immer neu einstellende dramatische Erfahrung des
reinen, nackten Jetzt im Augenblick des Erwachens und eines gänzlich beziehungs-
und erinnerungslosen puren Existenzgefühls (sentiment de mon existence)3. In

3 1,3.
4 terreurs enfantines; 1,4.
5 1,5.
 
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