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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2005 — 2006

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I. Das Geschäftsjahr 2005
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Jahresfeier am 21. Mai 2005
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Stierle, Karlheinz: Zeitgestalten - Figurationen der Zeitlichkeit in Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"
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https://doi.org/10.11588/diglit.67593#0026
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21. Mai 2005 | 39

diesem Augenblick wird das Ich zu einem Wesen, das bis in die vormenschliche
Existenz zurückfällt: „Ich hatte einzig em Existenzgefühl in seiner ursprünglichen
Einfachheit, wie es in der Tiefe eines Tieres erzittern kann; ich war entblößter als ein
Höhlenmensch“6. Der nackte erste Augenblick des Erwachens, dies absolute Jetzt, ist
ein Augenblick des tiefen Erschreckens des seines Ich-Seins beraubten Ich. Das Ich
ist keine Substanz, es ist eine Funktion seiner ihm zugänglichen und verfügbaren
Zeitlichkeit. Indem in einem Nu die Zeitreferenzen und Zeitbezüge des Ich zurück-
strömen, wird es erst wieder zum Subjekt in seiner kulturellen Komplexität und
Geschichtetheit: „(...) ich durchlief in einer Sekunde Jahrhunderte der Zivilisa-
tion“7. Sekunde und Jahrhunderte sind hier dramatisch ineinander verschlungen.
Aber dies in seine Zeitlichkeit zurückgekehrte Ich macht die Erfahrung verlorener,
unzugänglich gewordener überpersönlicher und persönlicher Zeit, deren Zustrom
das Ich erst wahrhaft seiner selbst gegenwärtig werden ließe. Könnte es sein, fragt
Marcel sich einmal in einer seiner Meditationen über die Zeit, die der Tod der
geliebten Albertine in ihm auslöst, daß jeder einzelne Tag im Innern des Ich wie em
Buch in einer Bibliothek aufbewahrt wäre und nur auf den unwahrscheinlichen
Leser wartete? Das Ich kann sich nicht genug Welt und Zeit aneignen, um sich gegen
den Schrecken des leeren Jetzt zu behaupten. Läßt das nackte Jetzt dem Ich nur das
Bewußtsein seiner puren, abstrakten Existenz, welche Steigerung seines Selbstseins
müßte es erfahren, wenn es Zugang zu seiner integralen Zeitlichkeit, zur endlosen
und immer anwachsenden Bibliothek seiner in ihm aufbewahrten Tage hätte. Die
absolute Ohnmacht des nackten Jetzt, die absolute Transparenz der eigenen Zeit-
lichkeit sind Grenzerfahrungen, von denen die eine real gegeben, die andere nur eine
nie Wirklichkeit werdende Denkmöglichkeit ist. Aber sie wird fortan zur Unruhe
von Marcels Epos der erinnernden Selbstvergewisserung werden.
Gegen den Schock des leeren Augenblicks und seines Weltverlusts errichtet
Marcel die Zeitgehäuse der Gewohnheit, der habitude, die immer wieder einem
Kataklysmus der Zeit zum Opfer fallen. Wohnen und Gewohnheit, habiter und habi-
tude, liegen nah beieinander. Die Gewohnheit macht die Welt bewohnbar, als wäre
sie eine Extension des vertrauten Zimmers. Am tiefsten prägt die Zeit der Gewohn-
heit sich dem Körpergedächtnis ein, das sich seine Welt in der Vertrautheit des eige-
nen Zimmers, der chambre, errichtet. Darum auch ist die Flucht der Jahre für den
sich nächtlich erinnernden Marcel eine Flucht von Zimmern, um die sich eine je
eigene Welt der Erinnerung mit je eigenen Zeitgestalten lagert, die in jedem Zeit-
gehäuse sich zu einer eigenen Konstellation ordnen.
Dem Schrecken des Jetzt und der Diskontinuität setzt Marcel die Gewohnheit,
aber auch die Erinnerung entgegen, deren verborgenstes Gesetz sich ihm erst nach
langen Lehrjahren des Erinnerns in einer plötzlichen Illumination offenbaren wird.
Je rückhaltloser Marcel dem Trauma des absoluten leeren Jetzt verfällt, desto tiefer ist

6 (...) j’avais seulement dans sa simplicite premiere, le sentiment de l’existence comme il peut fre-
mir au fond d’un animal; j’etais plus denue que l’homme des cavenes; (...); I, 5.
7 (...) je passais en une seconde par-dessus des siecles de civilisation (...); I, 5f.
 
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