SITZUNGEN
und Sturmfluten ergriffen. Aber die Vorsorge vor Erdbeben mit ihrer plötzlichen,
ohne jede Warnung einsetzenden Wirkung und mit ihrer geringen Auftretenswahr-
scheinlichkeit, die es an den Rand des Erinnerungsvermögens einer Generation
drängt, erfordert em hohes Maß an rationalem Verständnis von Natur und Gesell-
schaft und Überzeugung in die langfristige Planbarkeit.
Schon die Sofortmaßnahmen, die der Minister des Königs, der Marquis de
Pombal, als unmittelbare Reaktion auf das Beben anordnete, erscheinen aus heutiger
Sicht sehr modern: Entsorgung der Leichen, Räumung der Straßen (mangels Hilfs-
organisationen zum Teil durch Zwangsarbeit), Abpumpen von Wasser zur Vermei-
dung von Krankheiten, Ermittlung von Schäden und Registrierung von Bauten,
Einfrieren der Preise zur Eindämmung der Spekulation und Hortung von Lebens-
rnitteln, Steuererhöhung auf Export- und Importwaren zur Finanzierung des Wie-
deraufbaus. In Folge des Bebens erfolgte der Wiederaufbau der zerstörten Teile Liss-
abons in einem mehrstufigen Stadtplanungsprozess, der sich über drei Jahre hinzog
und der den Abriss alter Bauten, die Anlage regulärer breiter Straßen zur Sicherung
der Zugänglichkeit und zur Reduktion der Brandgefahr sowie eine standardisierte
Bauweise einschloss. Mit dem Bauschutt wurde das Ufer desTejo höher gelegt. Bes-
sere Baugründung, feste Fundamente und die Einführung duktiler struktureller Ele-
mente erhöhten die Erdbebenresistenz. Die Feuersicherheit wurde durch eine Reihe
von Einzelmaßnahmen verbessert: Steintreppen, Steinbalkone, Brandmauern, etc.
Wir finden in diesem Maßnahmenkatalog die Elemente neuzeitlicher Schaden-
sprävention: Stadtplanung und Sicherung von Infrastruktur und Bauten.
Das Wort Katastrophe beinhaltet das griechische strephein (wenden). Lissabon
1755 markiert in der Tat einen Wendepunkt des Verständnisses von Katastrophen,
weil dieses Ereignis gleichzeitig der Beginn eines Denkens ist, das es ermöglicht, auf
zukünftige Extremereignisse besser vorbereitet zu sein.
WILHELM KÜHLMANN: „DAS ERDBEBEN VON LISSABON
ALS LITERARISCHES EREIGNIS. JOHANN PETER UZ' GEDICHT
DAS ERDBEBEN IM HISTORISCH-EPOCHALEN KONTEXT
Nicht durch die Faktizität, sondern durch die Publizität des Geschehens nimmt das
Stichwort ‘Lissabon’ in der Geschichte der Katastrophen einen prominenten Platz
ein. Niemals vorher, soweit historiographisch zu rekonstruieren, verursachte eine
Naturkatastrophe em ähnliches Gefühl offenkundiger und weitverbreiteter Betrof-
fenheit, mithin einen Kommentierungs-, Erklärungs- und Deutungsbedarf, der viele
Federn ganz divergenter Autorengruppen in Bewegung setzte und der in mancher-
lei literarischen Reminiszenzen noch bis in die jüngere Literatur hinein seinen Nie-
derschlag fand: in Anspielungen bei Kleist, Hebel, Fontane oder Thomas Mann etwa,
in einer Novelle Reinhold Schneiders, in einem Hörspiel Günter Eichs oder in einer
für Kinder gedachten Rundfunksendung Walter Benjamins. Die Korrespondenz von
‘natürlichen’ Geschehnissen und ihrer literarisch-publizistischen Diskussion wird so
zum Testfall für die exemplarische Untersuchung epochensignifikanter text- und
und Sturmfluten ergriffen. Aber die Vorsorge vor Erdbeben mit ihrer plötzlichen,
ohne jede Warnung einsetzenden Wirkung und mit ihrer geringen Auftretenswahr-
scheinlichkeit, die es an den Rand des Erinnerungsvermögens einer Generation
drängt, erfordert em hohes Maß an rationalem Verständnis von Natur und Gesell-
schaft und Überzeugung in die langfristige Planbarkeit.
Schon die Sofortmaßnahmen, die der Minister des Königs, der Marquis de
Pombal, als unmittelbare Reaktion auf das Beben anordnete, erscheinen aus heutiger
Sicht sehr modern: Entsorgung der Leichen, Räumung der Straßen (mangels Hilfs-
organisationen zum Teil durch Zwangsarbeit), Abpumpen von Wasser zur Vermei-
dung von Krankheiten, Ermittlung von Schäden und Registrierung von Bauten,
Einfrieren der Preise zur Eindämmung der Spekulation und Hortung von Lebens-
rnitteln, Steuererhöhung auf Export- und Importwaren zur Finanzierung des Wie-
deraufbaus. In Folge des Bebens erfolgte der Wiederaufbau der zerstörten Teile Liss-
abons in einem mehrstufigen Stadtplanungsprozess, der sich über drei Jahre hinzog
und der den Abriss alter Bauten, die Anlage regulärer breiter Straßen zur Sicherung
der Zugänglichkeit und zur Reduktion der Brandgefahr sowie eine standardisierte
Bauweise einschloss. Mit dem Bauschutt wurde das Ufer desTejo höher gelegt. Bes-
sere Baugründung, feste Fundamente und die Einführung duktiler struktureller Ele-
mente erhöhten die Erdbebenresistenz. Die Feuersicherheit wurde durch eine Reihe
von Einzelmaßnahmen verbessert: Steintreppen, Steinbalkone, Brandmauern, etc.
Wir finden in diesem Maßnahmenkatalog die Elemente neuzeitlicher Schaden-
sprävention: Stadtplanung und Sicherung von Infrastruktur und Bauten.
Das Wort Katastrophe beinhaltet das griechische strephein (wenden). Lissabon
1755 markiert in der Tat einen Wendepunkt des Verständnisses von Katastrophen,
weil dieses Ereignis gleichzeitig der Beginn eines Denkens ist, das es ermöglicht, auf
zukünftige Extremereignisse besser vorbereitet zu sein.
WILHELM KÜHLMANN: „DAS ERDBEBEN VON LISSABON
ALS LITERARISCHES EREIGNIS. JOHANN PETER UZ' GEDICHT
DAS ERDBEBEN IM HISTORISCH-EPOCHALEN KONTEXT
Nicht durch die Faktizität, sondern durch die Publizität des Geschehens nimmt das
Stichwort ‘Lissabon’ in der Geschichte der Katastrophen einen prominenten Platz
ein. Niemals vorher, soweit historiographisch zu rekonstruieren, verursachte eine
Naturkatastrophe em ähnliches Gefühl offenkundiger und weitverbreiteter Betrof-
fenheit, mithin einen Kommentierungs-, Erklärungs- und Deutungsbedarf, der viele
Federn ganz divergenter Autorengruppen in Bewegung setzte und der in mancher-
lei literarischen Reminiszenzen noch bis in die jüngere Literatur hinein seinen Nie-
derschlag fand: in Anspielungen bei Kleist, Hebel, Fontane oder Thomas Mann etwa,
in einer Novelle Reinhold Schneiders, in einem Hörspiel Günter Eichs oder in einer
für Kinder gedachten Rundfunksendung Walter Benjamins. Die Korrespondenz von
‘natürlichen’ Geschehnissen und ihrer literarisch-publizistischen Diskussion wird so
zum Testfall für die exemplarische Untersuchung epochensignifikanter text- und