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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2005 — 2006

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I. Das Geschäftsjahr 2005
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Gesamtsitzung am 16. Juli 2005
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Schmidt, Ernst A.: Spontane Bewegungsimpulse des Atoms in der epikureischen Naturphilosophie
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https://doi.org/10.11588/diglit.67593#0067
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SITZUNGEN

clinamen, ‘Beugung’, declinatio, ‘Abbiegung’) zu beiden Fragen eine Antwort aus
einem Prinzip, dessen Aufklärung antiken Materialismus besser zu verstehen hilft.
Entgegen jenen Stimmen der Forschung, nach denen Epikur diese Lehre erst im
Lauf der Ausarbeitung seines Systems entwickelte, kann nur gelten: Epikureische
Physik ist ohne naQEyxXlOig systematisch und historisch (zwischen vorsokratischem
Atomismus und Lukrez) unmöglich.
Die Bewegungslehre bei Lukrez enthält diese Lehrstücke: Die unaufhörliche
Bewegung der Atome infolge ihrer Wesenseigenschaft ‘Gewicht’, als zweite Ursache
Rückprall nach Zusammenstoß. Die Schnelligkeit der Atombewegung. Die natür-
liche Körperbewegung nach unten; alle Bewegung nach oben ist abgeleitet. Die
Atomabweichung und, im Zusammenhang mit ihr, die Lehre gleicher Geschwin-
digkeit.
Die clinamen -Lehre ist notwendig für die Erklärung 1. der Welt und aller Atom-
zusammensetzungen, weil nur so das Zusammentreffen von Atomen denkbar ist, und
2. von Willensfreiheit, Spontaneität der Seele, Befreiung von Determinismus und
Notwendigkeit. Sie ist notwendig infolge 1. des Gewichts als der Ursache der Bewe-
gung senkrecht nach unten und 2. der Isotachie.
Diese Lehre ist immer wieder verspottet worden, als wäre sie em ‘deus ex
machina’, der das System an der Stelle kitte, wo es auseinanderbreche. Man muß sie
im Gegenteil als systematisches Herzstück der epikureischen Naturphilosophie anse-
hen. Jedes Atom hat die Impulspotentialität, an nicht vorherbestimmten Raum- und
Zeitpunkten spontan von seiner Bahn um em Minimum abzuweichen. Das reicht
aus, um Zusammenstöße und d.h. Bewegungen in alle Richtungen und d.h. Welt-
und Körperentstehung zu erklären. Entscheidend ist: Die ‘Abweichung’ ist kein von
außen kommender Zufall, kein ursachloses Geschehen, sondern beruht auf einer
Wesenseigenschaft, einem Vitalitätsprinzip der Atome.
Die Abweichung folgte notwendig aus der Neuerung gegenüber Demokrit,
die Atombewegung primär auf ihre Wesenseigenschaft ‘Gewicht’ zurückzuführen
und daher im senkrechten Fall ihre natürliche Bewegung zu sehen. Sie bewahrt als
ursprüngliches Prinzip die vorsokratische Vitalität der Atome, die nicht nur Formen
und Eigenschaften, sondern auch Bewegungsimpulse besitzen. Vor dem ‘Idealismus’
der klassischen Philosophie (Platon/Aristoteles) konnte es ‘reinen Materialismus’
nicht geben, war ‘Stoff’ noch Stoff und Form, Leben und Bewegungsursache. Diese
vorsokratische Grundlage hat der nachklassische Philosoph Epikur bewahrt. Den
entscheidenden Erkenntnisfortschritt zur Kinetik Demokrits verdankt man Rudolf
Löbl. Die Pointe der epikureischen Deklination hat Karl Marx erkannt {Differenz der
demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, 1841). Als Schwundform der demo-
kritischen vitalistischen Bewegung der Atome, ihrer Antriebs- und Stoßkraft (Meta-
phern von der Bewegung von Fischen oder Körperteilen:‘Zucken’,‘Schnellen’,‘Pul-
sieren’) und der Anziehung gleichgestaltiger Ursprungskörper, im Kontext nun einer
Bewegung infolge Gewichts, ist die Abweichung ein Spontaneitätsprinzip geworden.
Der Lösungsvorschlag zur Lehre der Willensfreiheit besteht darin, die lukrezi-
sche Einsicht, daß das Subjekt meiner Wahrnehmung Ich bin, insofern als meine
Seele und mein Körper in ihren, und also in meinen, Atomen wahrnehmen, auf den
 
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