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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2006 — 2006

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I. Das Geschäftsjahr 2006
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Jahresfeier am 20. Mai 2006
DOI Kapitel:
Begrüßung und Bericht des Präsidenten Peter Graf Kielmansegg
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https://doi.org/10.11588/diglit.66961#0024
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JAHRESFEIER

senschaftsrat aufs Tapet gebracht — mich beharrlich durch meine Präsidentschaftsjah-
re begleitet?
Einstweilen auf keine. In einem Jahr wird man wohl mehr sagen können. Ich
halte es für einen bedeutenden Fortschritt, daß seit einem Jahr ein gemeinsamer Vor-
schlag der deutschen Akademien der Wissenschaften auf dem Tisch liegt. Er ist von
der Überzeugung bestimmt, daß es für dieses Land gut wäre, wenn die Wissenschaft
in den Diskussionen über Zukunftsfragen ihre Stimme deutlicher, geschlossener,
unabhängiger erheben könnte; nicht in erster Linie, wo es um sie selbst geht - das
ist das Feld der bestehenden Wissenschaftsorganisationen —, sondern da, wo ihr
Urteilsvermögen außerhalb dieses Feldes gebraucht wird. Auf der anderen Seite sehe
ich aber auch mit Sorge, wie schwer es fällt — das gilt nicht nur bei diesem Thema —,
über den Status quo hinauszudenken. Die Interessen am Status quo sind fast immer
besser organisiert und stärker motiviert als die Interessen einer Veränderung des
Status quo - der Politikwissenschaftler weiß, daß dies eines der politischen Grund-
gesetze der Demokratie ist.
Hinter mir hält Athene, die Göttin der Weisheit, feierlichen Einzug in Heidel-
berg. Athene ist auch die Patronin der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Freilich nicht irgendeine Athene, sondern, deutlich zu erkennen an der anmutigen
Neigung des Kopfes und dem hochgeschobenen Helm, die Athene des Myron, wie
man sie im Staedel in Frankfurt bewundern kann.Was hat die Vereinigung von Weis-
heit und Anmut in einer Gestalt mit der Akademie zu tun?
Vielleicht gibt uns die berühmte Kleistsche Reflexion „Über das Marionet-
tentheater“ einen Fingerzeig. Kleist nennt, was ich Anmut genannt habe, Grazie. Und
das Gespräch, als das die Reflexion gefaßt ist, mündet in den Satz, daß die Grazie „in
demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins,
oder ein unendliches Bewußtsein hat“, der Marionette oder der Gottheit. Was aber
könnte denn, um die Brücke zu unserem Thema zu schlagen, mit einer Wissenschaft
gemeint sein, die im Kleistschen Sinne „kein Bewußtsein“ hat? Darauf gibt es eine
schöne Antwort von Wilhelm von Humboldt in seiner Antrittsrede in der Berliner
Akademie aus dem Jahr 1809, einem Text also, der fast gleichzeitig mit dem Kleists
entstanden ist. „Die Wissenschaft aber“, sagt Humboldt, „gießt oft dann ihren wohl-
tätigen Segen auf das Leben aus, wenn sie dasselbe gewissermaßen zu vergessen
scheint.“
Der enorme politische wie gesellschaftliche Erwartungsdruck, der gegenwär-
tig auf der Wissenschaft lastet, will von dieser Einsicht gar nichts wissen. Die Akade-
mien der Wissenschaften sind die letzten institutionellen Rückzugspositionen jener
Wissenschaft, „die das Leben zu vergessen scheint und eben dadurch ihren wohltäti-
gen Segen über es ausgießt“. An die Humboldtsche Einsicht zu erinnern, ist gerade-
zu zu einer Mission der Akademien geworden. Eine Gestalt, die Weisheit und Anmut
zugleich verkörpert, ist deshalb für eine Akademie eine zeitgemäße Wappenfigur
wider den Zeitgeist.
 
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