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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2006 — 2006

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I. Das Geschäftsjahr 2006
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Gesamtsitzung am 10. Juni 2006
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Leopold, Silke: Komponieren im Rentenalter: über die Kategorie des Spätwerks in der Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.66961#0064
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SITZUNGEN

Betracht zu ziehen und späte Kompositionen daraufhin zu befragen, welchen Stel-
lenwert sie im Kontext nicht nur der Musikgeschichte, sondern auch eines indivi-
duellen Lebenswerkes besitzen.
Um ein Spätwerk mit dem bevorstehenden Tod des Komponisten in Verbin-
dung setzen zu können, bietet sich vor allem ein Blick auf jene Werke an, die am Ende
eines langen Komponistenlebens entstanden sind. Der 35jährige Mozart
konnte bei der Komposition der Zauberflöte kaum ahnen, daß es eines seiner letzten
Werke werden sollte, während sich der über 80 Jahre alte Richard Strauss über
seinen baldigen Tod durchaus bewußt war, als er 1948 seine Vier letzten Lieder schrieb.
Zeugen Kompositionen wie Strauss’ Vier letzte Lieder von einer „bewußten,
auktorial intendierten Gestaltung der eigenen Todesnähe“ (H. Haslmayr 1994), so
scheint es doch auch ein anderes Charakteristikum zu geben, das viele Alterswerke
auszeichnet. Vor allem bei jenen Musikern, denen das Dienen, sei es einem welt-
lichen oder geistlichen, einem höfischen oder bürgerlichen Herrn, den Lebens-
unterhalt sicherte, die in berufliche Zwänge und Pflichten eingebunden waren, zei-
gen sich in späten Werken bisweilen erstaunliche Aufbrüche, die weniger von der viel
beschworenen Todesnähe künden als vielmehr von einer souveränen Gelassenheit im
Umgang mit Traditionen und Erwartungen. Niemandem mehr verantwortlich zu
sein als sich selbst und seiner Kunst — dieses Gefühl von Unabhängigkeit prägt fast
alle Kompositionen von Musikern in hohem Alter jenseits ihrer beruflich aktiven
Zeit ebenso wie eine unbändige Neu-Gier, d.h. die Lust, Dinge auszuprobieren, die
bisher im eigenen Werk keine oder nur eine geringe Rolle gespielt haben. Nur so
läßt sich zum Beispiel erklären, daß der 73jährige Claudio Monteverdi, nachdem er
mit dem 8. Madrigalbuch von 1638 und der Selva morale et spirituale von 1640 sein
„musikalisches Vermächtnis“ der Nachwelt übergeben hatte, sich nach fünfzig Jahren
im Hof- bzw. Kirchendienst und in einer überaus komfortablen Lebenssituation
nach jahrzehntelanger musikdramatischer Abstinenz mit seinen letzten Werken noch
einmal der in Venedig gerade zu einer kommerziellen Gattung aufsteigenden Oper
zuwandte. Selten ist Monteverdis Musik so jung, so leidenschaftlich und so sinnlich
gewesen wie in seinem allerletzten Werk, der Incoronazione di Poppea, jenes Hohelied
auf den Ehebruch, das noch den Musikwissenschaftlern des vergangenen Jahrhun-
derts eher peinlich und ein Dorn im Auge war. Mit mehr als siebzig Jahren, als einer
der angesehensten Musiker seiner Zeit, in kirchlicher Funktion und als Geistlicher
über jeden moralischen Zweifel erhaben, hatte Monteverdi buchstäblich nichts mehr
zu verlieren; er mußte auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen und konnte das
Rad der Operngeschichte gleichsam noch einmal neu erfinden und seinen Figuren
all jene Leidenschaften musikalisch in den Mund legen, die ihm selbst und allen
anderen ehrbaren Zeitgenossen verwehrt gewesen wären. Monteverdi ist nur ein
Beispiel für einen solchen kompositorischen Neubeginn im hohen Alter jenseits des
aktiven Musikerlebens. Ähnliches ist bei Komponisten wie Georg Philipp Telemann,
Agostino Steffani oder auch Joseph Haydn zu beobachten, der mit seinen beiden in
Wien entstandenen Oratorien Die Schöpfung und Die Jahreszeiten noch im Alter von
knapp siebzig Jahren zukunftsweisende Modelle für eine bis dahin auf dem europäi-
schen Kontinent nur wenig bekannte Gattung bereitstellte.
 
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