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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2007 — 2007

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I. Das Geschäftsjahr 2007
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Gesamtsitzung am 21. Juli 2007
DOI Artikel:
Esser, Hartmut: Kann man mit 'Sinn' kausal erkläre?: Beitrag zur Diskussion "Ist Geisteswissenschaft Wissenschaft?"
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https://doi.org/10.11588/diglit.66959#0080
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21. Juli 2007 | 93

nen Varianten einer „erklärenden“ gegenüber einer „interpretativen“ Sozialwissen-
schaft statt und dabei, oft sehr vordergründig, im Streit zwischen den sog. quantita-
tiven gegenüber den qualitativen Methoden, wobei es oft so scheint als seien die
Gegensätze schon grundsätzlich nicht auszuräumen. Die grundlegende These dieses
Beitrags lautet dagegen anders: Es gibt keinen grundsätzlichen Anlass die ohne Zwei-
fel bestehenden Besonderheiten der Sozial-/Geisteswissenschaften anzuerkennen
und in das Zentrum der Untersuchung zu stellen und gleichzeitig kausale Erklärun-
gen nach der Methodologie der Naturwissenschaften anzustreben und zu liefern.
Das sei an zwei zentralen Aspekten der Kontroverse in aller Kürze und möglichst
ohne unnötige Komplikationen diskutiert: Kann es angesichts der unhintergehbaren
Geschichtlichkeit aller sozialen Prozesse überhaupt so etwas wie sozialwissenschaft-
liche „Gesetze“ geben? Und schließt nicht schon die Kategorie des „Sinns“ die Vor-
stellung einer kausalen Verursachung gänzlich aus?
Historische Erklärungen
Die Frage nach „historischen Erklärungen“ scheint zunächst eindeutig gegen eine
solche Möglichkeit zu sprechen: Jedes gesellschaftliche Ereignis ist historisch einma-
lig und die Suche nach übergreifenden Gesetzen der Gesellschaft oder der Geschich-
te ist — so kann man es wohl sagen — nachhaltig gescheitert. Gleichwohl gibt es eine
einfache erste Antwort, die bereits in den frühen Formulierungen des sog. Hempel-
Oppenheim-Schemas, dem Grundmodell der Kausalerklärungen, als sog. „genetische
Erklärung“ skizziert wird. Danach sind geschichtliche Abläufe nichts weiter als
Sequenzen von historisch immer wieder neuen Einzelereignissen, die dann wieder-
um als Randbedingungen für die Anwendung von bestimmten „allgemeinen“
Gesetzen zur Erklärung eines Folgeereignisses fungieren, meist nicht ohne beschrei-
bende Ergänzung externer Umstände, die nicht weiter erklärt werden (können).
Diese Randbedingungen können ohne weiteres „einmalig“ sein (und sind es auch
oft genug), sie müssen sich nur als Spezialfälle der jeweiligen allgemeinen Gesetze
rekonstruieren und einordnen lassen, etwa eine vorrevolutionäre Situation als „rela-
tive Deprivation“ mit der Anwendung einer Theorie, die aus der relativen Depriva-
tion in dieser spezifischen Situation gewisse Handlungen erklärt. Es kommt daher
neben der korrekten Beschreibung der jeweiligen „historischen“ Randbedingungen
immer auch darauf an, die für den jeweils nächsten Schritt nötigen „Gesetze“ auch
zur Verfügung zu haben bzw. zu finden. Das so erklärte Ereignis bildet dann im näch-
sten Schritt die Randbedingung für die Erklärung des nächsten Ereignisses, meist
unter Anwendung eines dann anderen Gesetzes. Für historische Erklärungen dieser
Art wird also kein übergreifendes Gesetz (der Geschichte) benötigt. Sie bestehen
vielmehr aus der Erklärung einzelner, miteinander wiederum kausal verbundener
Ereignisse, und der gesamte Ablauf ist eine Kette von Sequenzen, deren Anfang und
Ende nicht über ein übergreifendes „Gesetz“ verbunden sind, sondern durch, meist
sehr kontingente, Konstellationen von Randbedingungen, Folgen und auch gewis-
sen zufälligen externen Einflüssen. Das aber sind dann allesamt nach den methodo-
logischen Regeln der Naturwissenschaften erklärbare Prozesse — etwa solche der
 
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