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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2007 — 2007

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I. Das Geschäftsjahr 2007
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Gesamtsitzung am 21. Juli 2007
DOI Artikel:
Stierle, Karlheinz: Beitrag zur Diskussion "Ist Geisteswissenschaft Wissenschaft?"
DOI Artikel:
Esser, Hartmut: Kann man mit 'Sinn' kausal erkläre?: Beitrag zur Diskussion "Ist Geisteswissenschaft Wissenschaft?"
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https://doi.org/10.11588/diglit.66959#0079
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92 | SITZUNGEN

Was die Kommunikation in den Geisteswissenschaften insbesondere behindert
und was andererseits die Geisteswissenschaften in ganz anderer Weise betrifft als die
Naturwissenschaften, ist ihr Verhältnis zur Sprache. In den Naturwissenschaften ist
das Englische als Kommunikationssprache an die Stelle des Lateinischen getreten, das
einmal die lingua franca des gesamten Universums des Wissens war, Kultur- und
Kommunikationssprache in einem. Für die Geisteswissenschaften ist der Zugang zu
den vergangenen und gegenwärtigen Kultursprachen, auch wenn sie keine Kom-
munikationssprachen mehr sind, eine unerläßliche Voraussetzung. Sprache ist im
eigentlichen Sinn der sensus communis einer Gesellschaft, in der sich zugleich ihre
Geschichte sedimentiert, Geist, esprit im Sinne von Montesquieus De l’esprit des loix.
Verstehen einer fremden Kultur heißt zuerst und vor allem Verstehen ihrer Sprache
aber auch das Verstehen der eigenen Kultur ist zutiefst sprachlich fundiert. Daher
muß oder sollte eine moderne Geisteswissenschaft immer auch kulturell mehr-
sprachig sein. Wenn das Englische zwar als Kommunikationssprache auch in den
Geisteswissenschaften immer mehr und oft allzusehr an Bedeutung gewinnt, so ist
es doch als Kultursprache nur eine unter einer Vielzahl von Kultursprachen. Die
Geisteswissenschaft gibt sich selbst auf, wenn sie dem nicht Rechnung tragen will.
Geisteswissenschaft ist selbst notwendig in einer Kultursprache verwurzelt, wie sie
sich wesentlich auf Kultursprachen bezieht. Sie ist selbst ein kulturelles Phänomen
und spiegelt die Kultur, die sie darstellt. Daraus scheint sich die Notwendigkeit einer
kulturellen Mehrsprachigkeit der Geisteswissenschaft zu ergeben, die durch keine
sprachliche Monokultur ersetzt werden kann. Gerade als Wissenschaft, für die Parti-
zipation unerläßlich ist, muß die Geisteswissenschaft bei aller Weltoffenheit ihre
Mitte in einer je spezifischen Kultur haben. Geisteswissenschaft ist weltoffen, aber
nicht weltlos, sie bedarf der eigenen kulturellen Mitte, des eigenen Orts in der Welt,
um sich der Welt produktiv öffnen zu können.
Hartmut Esser: „Kann man mit ‘Sinn’ kausal erklären?“
Der Gegenstand der Sozialwissenschaften sind gesellschaftliche Zusammenhänge
aller Art und es wird seit jeher und bis heute über die Frage gestritten, ob für deren
Erfassung die Methoden der Naturwissenschaften oder die der Geisteswissenschaf-
ten angemessener sind. Das Problem entsteht über zwei Besonderheiten, die die
Sozialwissenschaften sowohl von den Geisteswissenschaften wie auch von den
Naturwissenschaften unterscheiden. Einerseits geht es nicht (allein) um die mög-
lichst verlässliche Beschreibung historisch spezifischer und evtl, sogar einmaliger Vor-
gänge und deren hermeneutischer „Deutung“, sondern (auch) um die Suche nach
möglichst allgemeinen „Gesetzen“ und deren Nutzung für kausale Erklärungen der
Vorgänge. Andererseits sind die „Objekte“ der Sozialwissenschaften — anders als die
der Naturwissenschaften — stets auch „Subjekte“ insofern deren Vorstellungen und
Absichten, der subjektive „Sinn“, die Grundlage der sozialen Prozesse bilden. Die
Kontroversen sind wohlbekannt: Erklären oder Verstehen? Kausalität oder Sinn? Spe-
zifische Geschichtlichkeit oder übergreifender sozialer Wandel? — unter anderem.
Der Streit ist bis heute nicht beigelegt und findet derzeit zwischen den verschiede-
 
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