274 | FÖRDERUNG DES WISSENSCHAFTLICHEN NACHWUCHSES
WALTER-WITZENMANN-PREIS
BARBARA BESSLICH:
„Synthesis von Unmensch und Übermensch. Napoleon in der deutschen Literatur des
19. und 20. Jahrhunderts“
Friedrich Nietzsche sah in ihm die „Synthesis von Unmensch und Übermensch“.
Heinrich Heine nannte ihn den „weltlichen Heiland“, Goethe pries ihn als „Kom-
pendium der Welt“. Friedrich Hebbel begegnete ihm oft im Traum als sein Kam-
merdiener. Daß Napoleon für die politische und gesellschaftliche Realität in
Deutschland im 19. Jahrhundert von nicht zu überschätzender Bedeutung war, ist
beinahe müßig festzustellen. Und dies wird vielleicht besonders deutlich in dem
Satz, mit dem Thomas Nipperdey seine Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts
beginnen ließ: „Am Anfang war Napoleon.“ Daß diese Wirkung Napoleons sich
aber nicht in der staatlichen Modernisierung Deutschlands und dem Nationalismus
der Befreiungskriege erschöpfte, sondern sich im kollektiven Gedächtnis der Deut-
schen weit über 1848 hinaus festschrieb, ist in Deutschland nach 1945 nur noch sel-
ten betont worden.
Wenn unmittelbar nach 1945 Deutsche auf den deutschen Napoleon-Mythos
zu sprechen kamen, so beschränkten sie sich entweder auf die liberale Napoleon-
Legende des Vormärz oder sie deuteten vage an, daß hier etwas nicht ganz Geheures
thematisiert werde. Golo Mann erinnerte 1955 nur noch allgemein daran, „der
Napoleon-Mythos habe nachmals in Deutschland kräftiger geblüht und wirksamere
Folgen [gehabt] als in Frankreich selber.“ Friedrich Sieburg verglich 1956 das eng-
lische und französische Napoleon-Bild mit dem der Deutschen und wurde etwas
deutlicher:
Von ganz anderen Kräften ist das deutsche Napoleon-Bild bestimmt. Es ist
für unser eigenes Wesen bezeichnender als für das des Eroberers. Nirgendwo
hat er eine so unausgeglichene und hitzige Bewunderung gefunden wie in
unserer Literatur. [...] Aber wer auch die Feder führen, wer auch die Stimme
erheben mag, em gelassenes Verhältnis zu Napoleon bringt kein Deutscher
auf.
Diese Zitate deuten an, daß Napoleon in der historischen Mythologie der Deut-
schen bis 1945 eine erhebliche Rolle gespielt hatte. Es klingt hier ein zugleich iden-
tifikatorisches und problematisches Verhältnis ‘der Deutschen’ zu Napoleon an, das
freilich nie exakt bestimmt, sondern lediglich raunend als prekär auratisiert wird. Was
die deutsche Literatur zwischen 1800 und 1945 immer wieder in auffallend „unaus-
geglichener“ Weise dazu veranlaßte, sich mit Napoleons kometenhaftem Aufstieg aus
dem Nichts zum Herrscher über Europa, mit seinem widerspruchsvollen Verhältnis
zur Revolution und seinem schroffen Untergang auseinanderzusetzen, war bisher
lediglich unzureichend erörtert worden.
Meine germanistische Arbeit konzipiert eine Literaturgeschichte des Napoleon-
Mythos von 1800 bis 1945 als deutsche Erinnerungsgeschichte. An unterschied-
WALTER-WITZENMANN-PREIS
BARBARA BESSLICH:
„Synthesis von Unmensch und Übermensch. Napoleon in der deutschen Literatur des
19. und 20. Jahrhunderts“
Friedrich Nietzsche sah in ihm die „Synthesis von Unmensch und Übermensch“.
Heinrich Heine nannte ihn den „weltlichen Heiland“, Goethe pries ihn als „Kom-
pendium der Welt“. Friedrich Hebbel begegnete ihm oft im Traum als sein Kam-
merdiener. Daß Napoleon für die politische und gesellschaftliche Realität in
Deutschland im 19. Jahrhundert von nicht zu überschätzender Bedeutung war, ist
beinahe müßig festzustellen. Und dies wird vielleicht besonders deutlich in dem
Satz, mit dem Thomas Nipperdey seine Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts
beginnen ließ: „Am Anfang war Napoleon.“ Daß diese Wirkung Napoleons sich
aber nicht in der staatlichen Modernisierung Deutschlands und dem Nationalismus
der Befreiungskriege erschöpfte, sondern sich im kollektiven Gedächtnis der Deut-
schen weit über 1848 hinaus festschrieb, ist in Deutschland nach 1945 nur noch sel-
ten betont worden.
Wenn unmittelbar nach 1945 Deutsche auf den deutschen Napoleon-Mythos
zu sprechen kamen, so beschränkten sie sich entweder auf die liberale Napoleon-
Legende des Vormärz oder sie deuteten vage an, daß hier etwas nicht ganz Geheures
thematisiert werde. Golo Mann erinnerte 1955 nur noch allgemein daran, „der
Napoleon-Mythos habe nachmals in Deutschland kräftiger geblüht und wirksamere
Folgen [gehabt] als in Frankreich selber.“ Friedrich Sieburg verglich 1956 das eng-
lische und französische Napoleon-Bild mit dem der Deutschen und wurde etwas
deutlicher:
Von ganz anderen Kräften ist das deutsche Napoleon-Bild bestimmt. Es ist
für unser eigenes Wesen bezeichnender als für das des Eroberers. Nirgendwo
hat er eine so unausgeglichene und hitzige Bewunderung gefunden wie in
unserer Literatur. [...] Aber wer auch die Feder führen, wer auch die Stimme
erheben mag, em gelassenes Verhältnis zu Napoleon bringt kein Deutscher
auf.
Diese Zitate deuten an, daß Napoleon in der historischen Mythologie der Deut-
schen bis 1945 eine erhebliche Rolle gespielt hatte. Es klingt hier ein zugleich iden-
tifikatorisches und problematisches Verhältnis ‘der Deutschen’ zu Napoleon an, das
freilich nie exakt bestimmt, sondern lediglich raunend als prekär auratisiert wird. Was
die deutsche Literatur zwischen 1800 und 1945 immer wieder in auffallend „unaus-
geglichener“ Weise dazu veranlaßte, sich mit Napoleons kometenhaftem Aufstieg aus
dem Nichts zum Herrscher über Europa, mit seinem widerspruchsvollen Verhältnis
zur Revolution und seinem schroffen Untergang auseinanderzusetzen, war bisher
lediglich unzureichend erörtert worden.
Meine germanistische Arbeit konzipiert eine Literaturgeschichte des Napoleon-
Mythos von 1800 bis 1945 als deutsche Erinnerungsgeschichte. An unterschied-