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SITZUNGEN
solche Grenzen deshalb nicht oder nur schwer erkennen, weil unser eigenes Denken
durch ebendiesen historischen Ursprung geformt wurde. Aber das Entstehen wis-
senschaftlichen Denkens ist das Ergebnis einer speziellen historischen Entwicklung,
die auf der Grundlage griechisch-jüdisch-christlichen Gedankengutes in Europa
stattgefunden hat. Mit dem wissenschaftlichen Vorgehen verbinden wir immer den
Anspruch der Allgemeingültigkeit. Und in der Tat haben sich das wissenschaftliche
Denken und die wissenschaftliche Vorgehensweise zumindest teilweise über den
ganzen Globus verbreitet. Aber es ist sehr wohl möglich, dass die historischen Wur-
zeln unser Denken stärker einschränken, als wir das wahrnehmen. Dazu zwei Über-
legungen. Ich halte es einmal für möglich, dass ohne die Entwicklung in Europa eine
andere Kultur zu einer anderen Zeit eine andere Form des Weltverständnisses her-
vorgebracht hätte, die ähnlich umfassend und rational gewesen wäre wie unser wis-
senschaftlicher Zugang und doch von diesem verschieden. Zum zweiten: Wenn es
auf der Welt dereinst einmal Lebewesen mit einem anders und wesentlich kräftiger
ausgestatteten Gehirn geben sollte, dann würde deren rationaler Zugang zur Welt
doch sicher ganz anders aussehen als der unsere.
Ich trage diese spekulativen Gedanken deshalb vor, weil sie das Gemeinsame an
den Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften besonders deutlich hervortreten
lassen. Für mich sind deshalb alle Wissenschalten Schwestern im Geiste, verschieden
nur durch die ihnen vom eigenen Sujet auferlegten methodischen Unterschiede.
Karlheinz Stierle:
Ist die Geisteswissenschaft Wissenschaft oder eine arme Verwandte, die man gele-
gentlich, wie jetzt im Jahr der Geisteswissenschaften an den Tisch der Wissenschaft
lädt?1 Eine solche Frage stellt sich nicht ohne Grund. In der Tat, was wäre, wenn ein
kluger Kopf den Nachweis erbrächte, daß nach den Kriterien eines wohlerwogenen
und sachgemäßen Wissenschaftsbegriffs die Geisteswissenschaft entweder prinzipiell
nicht darunterfiele oder doch nur so marginal, daß dies den Wissenschaftsanspruch
der Geisteswissenschaft nicht retten könnte? Ich möchte behaupten, es würde sich
nichts Wesentliches ändern. Mir scheint, daß die spezifischen Gegebenheiten jener
Disziplinen, die man gewöhnlich im deutschsprachigen Raum unter dem Begriff
Geisteswissenschaft zusammenfaßt, sich nicht derselben wissenschaftlichen Rationa-
lität erschließen, die in den Naturwissenschaften mit so viel Erfolg Anwendung fan-
den und finden. Wenn aber Sachentsprechung eine Form der Rationalität ist, so wird
man einen normativen Wissenschaftsbegriff verabschieden müssen, um die spezifi-
schen Tätigkeiten im Feld der Geisteswissenschaft auf ihre je spezifische Rationalität
befragen zu können, auch dann, wenn sie nicht oder nur schwer mit dem vor allem
an den Naturwissenschaften gewonnenen Begriff wissenschaftlicher Rationalität
zusammenfallen. Mein Plädoyer für die Geisteswissenschaft gilt nicht deren abstrak-
ter unter die Norm einer utopischen Einheitswissenschaft fallenden Wissenschaft-
Zum Thema vgl. auch Vf., „Naht das Ende des universitären Studiums?“ in FAZ v. 20.2.2002.
SITZUNGEN
solche Grenzen deshalb nicht oder nur schwer erkennen, weil unser eigenes Denken
durch ebendiesen historischen Ursprung geformt wurde. Aber das Entstehen wis-
senschaftlichen Denkens ist das Ergebnis einer speziellen historischen Entwicklung,
die auf der Grundlage griechisch-jüdisch-christlichen Gedankengutes in Europa
stattgefunden hat. Mit dem wissenschaftlichen Vorgehen verbinden wir immer den
Anspruch der Allgemeingültigkeit. Und in der Tat haben sich das wissenschaftliche
Denken und die wissenschaftliche Vorgehensweise zumindest teilweise über den
ganzen Globus verbreitet. Aber es ist sehr wohl möglich, dass die historischen Wur-
zeln unser Denken stärker einschränken, als wir das wahrnehmen. Dazu zwei Über-
legungen. Ich halte es einmal für möglich, dass ohne die Entwicklung in Europa eine
andere Kultur zu einer anderen Zeit eine andere Form des Weltverständnisses her-
vorgebracht hätte, die ähnlich umfassend und rational gewesen wäre wie unser wis-
senschaftlicher Zugang und doch von diesem verschieden. Zum zweiten: Wenn es
auf der Welt dereinst einmal Lebewesen mit einem anders und wesentlich kräftiger
ausgestatteten Gehirn geben sollte, dann würde deren rationaler Zugang zur Welt
doch sicher ganz anders aussehen als der unsere.
Ich trage diese spekulativen Gedanken deshalb vor, weil sie das Gemeinsame an
den Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften besonders deutlich hervortreten
lassen. Für mich sind deshalb alle Wissenschalten Schwestern im Geiste, verschieden
nur durch die ihnen vom eigenen Sujet auferlegten methodischen Unterschiede.
Karlheinz Stierle:
Ist die Geisteswissenschaft Wissenschaft oder eine arme Verwandte, die man gele-
gentlich, wie jetzt im Jahr der Geisteswissenschaften an den Tisch der Wissenschaft
lädt?1 Eine solche Frage stellt sich nicht ohne Grund. In der Tat, was wäre, wenn ein
kluger Kopf den Nachweis erbrächte, daß nach den Kriterien eines wohlerwogenen
und sachgemäßen Wissenschaftsbegriffs die Geisteswissenschaft entweder prinzipiell
nicht darunterfiele oder doch nur so marginal, daß dies den Wissenschaftsanspruch
der Geisteswissenschaft nicht retten könnte? Ich möchte behaupten, es würde sich
nichts Wesentliches ändern. Mir scheint, daß die spezifischen Gegebenheiten jener
Disziplinen, die man gewöhnlich im deutschsprachigen Raum unter dem Begriff
Geisteswissenschaft zusammenfaßt, sich nicht derselben wissenschaftlichen Rationa-
lität erschließen, die in den Naturwissenschaften mit so viel Erfolg Anwendung fan-
den und finden. Wenn aber Sachentsprechung eine Form der Rationalität ist, so wird
man einen normativen Wissenschaftsbegriff verabschieden müssen, um die spezifi-
schen Tätigkeiten im Feld der Geisteswissenschaft auf ihre je spezifische Rationalität
befragen zu können, auch dann, wenn sie nicht oder nur schwer mit dem vor allem
an den Naturwissenschaften gewonnenen Begriff wissenschaftlicher Rationalität
zusammenfallen. Mein Plädoyer für die Geisteswissenschaft gilt nicht deren abstrak-
ter unter die Norm einer utopischen Einheitswissenschaft fallenden Wissenschaft-
Zum Thema vgl. auch Vf., „Naht das Ende des universitären Studiums?“ in FAZ v. 20.2.2002.