Michael Welker | 151
Antrittsrede von Herrn MICHAEL WELKER
an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 21. Juli 2007.
Ich danke Ihnen für die Einladung, mich in diesem
erlauchten Kreis mit einem Rückblick auf meinen bis-
herigen akademischen Weg vorzustellen. In einem sol-
chen Rückblick muss ich auch von den beiden ersten
Jahrzehnten meines Lebens sprechen. Denn schon mit
vier Jahren wollte ich Pfarrer werden, obwohl meine
Familie nur eine schwach ausgeprägte bürgerliche
Religiosität pflegte. Und bereits im zweiten Semester
meines Theologiestudiums kam der Wunsch in mir auf,
die Hochschullehrerlaufbahn einzuschlagen.
Ich wurde 1947 in Erlangen geboren, wo mein
Vater in Zahnmedizin promovierte.Von 1948 an wuchs
ich im West-Berlin der Nachkriegszeit auf. Meine Mutter suchte mir und meinen
jüngeren Brüdern nach den Traumata der Nazi- und der Kriegsjahre in einem
großen, hellen Kinderzimmer mit viel schönem Spielzeug aus dem Erzgebirge eine
heile Kinderwelt zu schaffen. Aber die Straßen in unserer Umgebung waren voller
Ruinen und die zahlreichen Kriegversehrten an Krücken, in Rollstühlen und mit
blauen Blindenbrillen boten das Bild einer Welt, von der wir durch Mauern des
Schweigens und der Tabus getrennt waren. Für meinen frühen Wunsch, Pfarrer zu
werden, war vor allem die Anziehungskraft „großer Wörter“ leitend, aber auch, bei
seltenen Gottesdienstbesuchen in überfüllten dunklen Großstadtkirchen, das Staunen
über die Konzentration der Menschen auf eine Rede, die ich nicht verstand. Wir
wohnten in der Fichtestraße. Die Auskunft meiner Mutter: „Fichte war ein Frei-
heitsdenker“ habe ich in frühen Jahren lange dumpf bebrütet, auch andere große
Wörter wie Gott, Satan, Hochmut oder Demut, die aus der Erwachsenenwelt in
unser Kinderzimmer gelangten, faszinierten mich.
Mit acht Jahren kam ich in den Staats- und Domchor und musste drei bis vier
Mal in der Woche zwischen West-Berlin und dem Alexanderplatz pendeln: Ich stieß
auf neue Mauern des Schweigens durch die Atmosphäre des „Ostsektors“ mit sei-
nen Transparenten, der anderen Kleidung der Menschen und den anderen Gerüchen;
aber auch durch die Intransparenz vieler religiöser Texte, die wir Chorknaben in
Kirche und Konzertsaal sangen: „Dem Geist soll Pfand und Zeugnis sein ...“ Mit
zehn Jahren kam ich ms Französische Gymnasium und machte die beglückende
Erfahrung, dass sich eine fremde kulturelle Welt langsam öffnet und sich erschließen
lässt. Schon 1961, noch vor dem Bau der Berliner Mauer, erwarb mein Vater eine
Praxis in der Pfalz. Wir wurden in eine Kleinstadt verschlagen, an eine Schule, die
anfangs der Karikatur im Film „Die Feuerzangenbowle“ ähnelte. Erfreulicherweise
bekamen wir dann einen sehr guten Deutschlehrer, der uns nicht nur in seinem Fach
bildete, sondern auch em recht anspruchsvolles Schultheaterprogramm entwickelte.
Ich hatte schon in Berlin am Hebbeltheater und im Französischen Gymnasium
Antrittsrede von Herrn MICHAEL WELKER
an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 21. Juli 2007.
Ich danke Ihnen für die Einladung, mich in diesem
erlauchten Kreis mit einem Rückblick auf meinen bis-
herigen akademischen Weg vorzustellen. In einem sol-
chen Rückblick muss ich auch von den beiden ersten
Jahrzehnten meines Lebens sprechen. Denn schon mit
vier Jahren wollte ich Pfarrer werden, obwohl meine
Familie nur eine schwach ausgeprägte bürgerliche
Religiosität pflegte. Und bereits im zweiten Semester
meines Theologiestudiums kam der Wunsch in mir auf,
die Hochschullehrerlaufbahn einzuschlagen.
Ich wurde 1947 in Erlangen geboren, wo mein
Vater in Zahnmedizin promovierte.Von 1948 an wuchs
ich im West-Berlin der Nachkriegszeit auf. Meine Mutter suchte mir und meinen
jüngeren Brüdern nach den Traumata der Nazi- und der Kriegsjahre in einem
großen, hellen Kinderzimmer mit viel schönem Spielzeug aus dem Erzgebirge eine
heile Kinderwelt zu schaffen. Aber die Straßen in unserer Umgebung waren voller
Ruinen und die zahlreichen Kriegversehrten an Krücken, in Rollstühlen und mit
blauen Blindenbrillen boten das Bild einer Welt, von der wir durch Mauern des
Schweigens und der Tabus getrennt waren. Für meinen frühen Wunsch, Pfarrer zu
werden, war vor allem die Anziehungskraft „großer Wörter“ leitend, aber auch, bei
seltenen Gottesdienstbesuchen in überfüllten dunklen Großstadtkirchen, das Staunen
über die Konzentration der Menschen auf eine Rede, die ich nicht verstand. Wir
wohnten in der Fichtestraße. Die Auskunft meiner Mutter: „Fichte war ein Frei-
heitsdenker“ habe ich in frühen Jahren lange dumpf bebrütet, auch andere große
Wörter wie Gott, Satan, Hochmut oder Demut, die aus der Erwachsenenwelt in
unser Kinderzimmer gelangten, faszinierten mich.
Mit acht Jahren kam ich in den Staats- und Domchor und musste drei bis vier
Mal in der Woche zwischen West-Berlin und dem Alexanderplatz pendeln: Ich stieß
auf neue Mauern des Schweigens durch die Atmosphäre des „Ostsektors“ mit sei-
nen Transparenten, der anderen Kleidung der Menschen und den anderen Gerüchen;
aber auch durch die Intransparenz vieler religiöser Texte, die wir Chorknaben in
Kirche und Konzertsaal sangen: „Dem Geist soll Pfand und Zeugnis sein ...“ Mit
zehn Jahren kam ich ms Französische Gymnasium und machte die beglückende
Erfahrung, dass sich eine fremde kulturelle Welt langsam öffnet und sich erschließen
lässt. Schon 1961, noch vor dem Bau der Berliner Mauer, erwarb mein Vater eine
Praxis in der Pfalz. Wir wurden in eine Kleinstadt verschlagen, an eine Schule, die
anfangs der Karikatur im Film „Die Feuerzangenbowle“ ähnelte. Erfreulicherweise
bekamen wir dann einen sehr guten Deutschlehrer, der uns nicht nur in seinem Fach
bildete, sondern auch em recht anspruchsvolles Schultheaterprogramm entwickelte.
Ich hatte schon in Berlin am Hebbeltheater und im Französischen Gymnasium