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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2007 — 2007

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I. Das Geschäftsjahr 2007
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Lachmann, Renate: Wolfgang Iser (22.7.1926-24.1.2007)
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https://doi.org/10.11588/diglit.66959#0163
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NACHRUFE

wird die Rezeptionsästhetik, wie sie seit den 70er Jahren (mit Vorstufen in den 30er
Jahren, etwa bei F.X. Saida, der auf die Einbeziehung der Werkgeschichte als einer
Geschichte der sich wandelnden Wahrnehmung des Werkes entsprechend sich ver-
ändernden ästhetischen Normen nachdrücklich hingewiesen hatte) als em litera-
turwissenschaftliches Zentralthema diskutiert wurde, insofern modifiziert, als die
starke Profilierung des Lesers als des eigentlichen Sinnproduzenten etwas zurück-
genommen und der Text selbst als Instanz bestimmt wird, die ihn, den Leser, her-
vorbrmgt. Diese Instanz wird durch einen Lesertyp vertreten, den Iser den „impli-
ziten Leser“ nennt (ein Lesertyp, der die kursierenden Typen des idealen, des infor-
mierten, des intendierten Lesers, des Archilesers ablöst), womit er zum einen auf
Wayne Boothe’s „implied author“ mit einem Gegenkonzept antwortet, zum andern
aber, was methodisch relevanter ist, den phänomenologischen Textbegriff von
Roman Ingarden aufnimmt. Ingarden hat in seinen klassischen Werken Das literari-
sche Kunstwerk (1931) und Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks (1968) mit sei-
nem Schichtenmodell des literarischen Textes in der “Schicht der dargestellten
Gegenständlichkeiten“ auf das vom Autor nicht Ausgeführte, Angedeutete hinge-
wiesen, das er als „Unbestimmtheitsstelle“ bezeichnet, die dem Leser zur Ergän-
zung, zur Überführung in Bestimmtheit aufgegeben ist. Die Unbestimmtheitsstel-
len sind semantisch notwendiger Bestandteil des Textes, (,, das Ungesagte“). Diese
„Leerstellen“ können vom Leser als solche belassen werden oder mit „Bestimmt-
heiten“ gefüllt werden, em Vorgang, den Ingarden „Konkretisation“ nennt und der
vom Leserhorizont, vom Wissens- und Vorstellungskontext des Lesers abhängig ist.
Iser nimmt das auf. Bei ihm sind es just diese Unbestimmtheitsstellen, die den Akt
des Lesens provozieren, einen Akt, an dem der „implizite Leser“ als Strukturele-
ment, bzw. als der vom Text mit einer bestimmten Rolle versehene Leser beteiligt
ist. Die Appellstruktur, das Wirkungspotential des Textes geht aus der Unbestimmt-
heit hervor. Iser weist auf das Phänomen hm, „daß die Unbestimmtheit in literari-
schen Texten seit dem 18. Jahrhundert ständig im Wachsen begriffen ist“, so in Der
implizite Leser (1972, S. 241).Texte der Moderne — Beckett ist ein prominentes Bei-
spiel - werden zu Konkurrenten des Bekannten undVertrauten: Das Schwinden von
Bezugsrahmen stürzt den Leser in eine Krise, die ihn zu einem Akt der Über-
schreitung des eigenen Horizonts zwingt. Iser geht es aber auch um die Vermeidung
von Verkürzungen und Reduktionen: „Dort also, wo Text und Leser zur Konver-
genz gelangen, liegt der Ort des literarischen Werks, und dieser hat zwangsläufig
einen virtuellen Charakter, da er weder auf die Realität des Textes noch auf die den
Leser kennzeichnenden Dispositionen reduziert werden kann“ (S. 253).
Die Zentralproblematik jeder literaturwissenschaftlichen Theorie betrifft das
Verhältnis von ,Realität und Fiktion, das realistische Substrat im fiktionalen Text.
Wolfgang Iser widmet sich diesem Thema mit dem bereits erwähnten grundlegen-
den Beitrag „Die Akte des Fingierens“. Funktionen des Fiktiven hinsichtlich des
Wirklichkeitssubstrats hat er allerdings bereits 1976 in seiner Untersuchung „Spen-
sers Arkadien. Fiktion und Geschichte in der englischen Renaissance“ (in: Europäi-
sche Bukolik und Georoik') formuliert. Es geht dabei um die arkadische Fiktion, die
Andersheit des Idyllischen, die ihre Welthaltigkeit nicht verleugnen kann, jedoch
 
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