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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2007 — 2007

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I. Das Geschäftsjahr 2007
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Lachmann, Renate: Wolfgang Iser (22.7.1926-24.1.2007)
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https://doi.org/10.11588/diglit.66959#0164
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Wolfgang Iser | 177

überdeckt. „Die Eklogen verschweigen ihren Konstitutionsgrund, denn sie stellen
nicht ein Ereignis dar, sondern umstellen es mit einem Fächer von Auslegungsmög-
lichkeiten. Dann zeigt sich etwas vom Charakter der Fiktion überhaupt. Sie ist mehr
,aber auch weniger als die Realität, auf die sie hinzielt. Sie ist weniger, weil sie nicht
wirklich ist; sie ist mehr, weil sie Wirklichkeit zu sehen erlaubt.“ (S. 243). „Problem-
lösungen für die Konflikte der politisch-geschichtlichen Welt“, die das Kunstprodukt
Arkadien zu bieten vermag, wobei es einen „Schein der Andersheit“ erzeugt, der
„notwendig ist, um sie von der politischen Gegenwart abzurücken“ (S.233), em
Kunstprodukt ist Arkadien, das an die Welt „angeschlossen“ bleibt. Diesen Aspekt
nimmt er in einer Hans Blumenberg gewidmeten Arkadien-Studie (Ikonologie Arka-
dien, in: Akzente 3 (1990, S. 224—229) noch einmal, pointierter, auf, womit die Gat-
tung, zu der Spensers Arkadien gehört, nachgerade zu einem exponierten Fall des
Fiktiven wird. In ihr wird die Interaktion mit der offiziellen Welt, die „symbiotische
Beziehung“ zwischen Arkadien und „seiner Umwelt“, die Bindung Arkadiens an
„Geschichte und Gegenwart“ als konstitutiv für die Gattung bestimmt (S. 226).
Arkadien erscheint hier nicht als eine „Figur der Sehnsucht /.../, die im Unwieder-
bringlichen die Idealität ansiedelt“, vielmehr wird in Arkadien die Grenze zur Welt
„immer wieder in die Welt hinein überschritten“ (S. 227). Arkadien erscheint damit
als die einzige „fiktive Welt“, in der das Gegenweltliche (Idyllische) aus seinem
prekären Status gerettet werden kann, denn die Welt selbst, an die sie rückgekoppelt
ist, verhindert dessen Verfall. Das Spiel Arkadiens ist em Doppelspiel zwischen der
Andersheit, die es setzt, und dem Gegebenen.
Auch das Komische gehört in die Semantik der Doppelheit und der Ambiva-
lenz, die Iser im Rahmen einer Ästhetik des Komischen als Kipp-Phänomen inter-
pretiert. So in „Das Komische: Em Kipp-Phänomen“ (in: Das Komische. Poetik und
Hermeneutik VII, 1976, S. 300—402). Aber auch Doppelsinnfiguren, wie sie der
Sprachludismus hervorbringt, gehören in diesen Kontext. Iser deckt sie nicht nur in
Laurence Sternes Tristram Shandy (1987, bes. S. 104—11) auf, sondern auch in den Stil-
experimenten von James Joyce (Der implizite Leser, S. 306-347). Um Sprachspiel-
technik ging es zuvor auch in „Dramatisierung des Doppelsinns in Shakespeares
As you like it“ (in: Das Gespräch. Poetik und Hermeneutik XI, , 335-360), wo auch
das Dialogizitätskonzept von Michail Bachtin für die Theoriebildung seine Rolle
spielte.
Während in der erwähnten Studie zu Spenser noch eine Art Dualismus zwi-
schen ,realer’ oder historisch-politischer Welt und deren semantischer Kontrafraktur
gilt - Arkadien als Rückzug aus einer inakzeptabel gewordenen Welt, womit em,
wenn auch ‘verkehrter’ Wirklichkeitsbezug seine Geltung behält — wird in seinem
Opus magnum Das Fiktive und Imaginäre von 1991 ein triadisches Modell entwickelt,
das das Reale, Fiktive und Imaginäre in ein Verhältnis setzt. Die exemplarisch gewor-
dene Dyade Realität und Fiktion, die die Realismusdiskussion ebenso bestimmte
und belastete, wie sie als Hintergrundtheorem auch die Interpretation postrealisti-
scher (avantgardistischer und postmoderner Literatur) begleitete, durch em triadi-
sches Modell abzulösen, bedurfte vor allem im Blick auf das dritte Element, das Ima-
ginäre, eines Begründungsrahmens.
 
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