178 | NACHRUFE
Das Imaginäre als „diffus, formlos, unfixiert, ohne Objektreferenz“, das sich in
„überfallartigen und daher willkürlich erscheinenden Zuständen“ (S. 21) oder als
„Strom flüchtiger dekontextuahsierter Assoziationen“ manifestiert, affiziert das Vor-
stellungsvermögen und gewinnt im Akt des Fingierens, der es dem Realen zuführt,
Gestalt. Das Reale wird dabei als „außertextuelle Welt, die dem Text vorausliegt und
dessen Bezugsfelder bildet“, bestimmt (S. 20). Das Potential des Imaginären gilt es
durch Formung zu bändigen, wobei der Hiatus zwischen Vorstellung und Darstel-
lung bzw. Gestaltung mitgedacht wird. Das Reale als Referenzrahmen und als
Bezugsfeld von Diskursen, deren Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft sind, bleibt
einerseits verläßliche Instanz, indem es kognitive Garantien anbietet, ist aber ande-
rerseits stets von Attacken des Imaginären beunruhigt, deren Vehemenz das Fingie-
ren auffängt. In der erwähnten Studie „Akte des Fingierens“, die bereits explizit der
Ablösung der problematischen „Zweistelligkeit“ von Realem und Fiktivem gewid-
met ist, wird die Einführung des Imaginären so begründet: „Enthält der fiktionale
Text Reales, ohne sich in der Beschreibung dieses Realen zu erschöpfen, so hat seine
fiktive Komponente wiederum keinen Selbstzweckcharakter, sondern ist als fingier-
te die Zurüstung eines Imaginären“ (S. 121). Das Fiktive erscheint als Transformati-
onsstufe, die zugleich einer „Zwecksetzung“ (S. 123) dient, der Inszenierung des
Imaginären. Der Akt des Fingierens erscheint als „Grenzüberschreitung/.../ vom
Diffusen zum Bestimmten“ (S. 124), womit auch der leserrelevante Aspekt der Ent-
scheidung der Unbestimmtheitsstellen wieder auftaucht und den Akt des Fingierens
mit dem des Lesens abermals verschränkt.
Die einmal behandelten Themen und entsprechende Theoriebildungen wer-
den nie ‘abgelegt’, sondern im sich weiter ausfächernden Werk Isers immer wieder
aufgerufen und in neue komplexe Zusammenhänge gerückt. Das betrifft insbeson-
dere das Fingieren. Mit seinem Konzept der Anthropologie der Literatur, das die
Literatur gegen den Konkurrenzdruck der anderen Medien verteidigt, kommen
Isers These zum Fingieren erneut zur Geltung. Bereits in der zitierten Antrittsvor-
lesung vor der Akademie hat er die Frage nach der Notwendigkeit der Fiktion
gestellt und danach, „warum der Mensch ihrer bedürftig ist“, und zugleich die For-
derung aufgestellt, daß die Literaturwissenschaft solche Fragen zu beantworten habe,
weil erst durch sie „die anthropologische Dimension der Literatur erschließbar
wird“. Denn: „Offensichtlich läßt sich aus Literatur ein Wissen gewinnen, das nicht
falsifizierbar ist, das höchst verschiedenartige Auffassungen und Aneignungen zuläßt
und das sich doch insofern gleichbleibt, als es nie einen unverrückbaren Objektcha-
rakter annimmt“. Ausdrücklich hat er dann 1989 in seinem auf dem Wissenschafts-
forum Donaueschingen gehaltenen Vortrag die Problematik des Fingierens mit einer
anthropologischen Fragestellung verknüpft („Fingieren als anthropologische Dimen-
sion der Literatur“, erneut zugänglich in Positionen der Kulturanthropologie, hrsg.
A. Assmann, 2004, S. 21-43). Die Erforschung des Doppelspiels des Fingierens als
eines Spiels zwischen Lüge und deren Überschreitung öffnet den Blick auf das, was
Iser „die menschliche Fiktionsbedürftigkeit“ nennt. „Grenzüberschreitung“
erscheint als „Grundbedeutung von Fingieren“. Fiktionen fungieren „als Bedingun-
gen für das Herstellen von Welten, deren Realitätscharakter nicht zu bezweifeln ist“,
Das Imaginäre als „diffus, formlos, unfixiert, ohne Objektreferenz“, das sich in
„überfallartigen und daher willkürlich erscheinenden Zuständen“ (S. 21) oder als
„Strom flüchtiger dekontextuahsierter Assoziationen“ manifestiert, affiziert das Vor-
stellungsvermögen und gewinnt im Akt des Fingierens, der es dem Realen zuführt,
Gestalt. Das Reale wird dabei als „außertextuelle Welt, die dem Text vorausliegt und
dessen Bezugsfelder bildet“, bestimmt (S. 20). Das Potential des Imaginären gilt es
durch Formung zu bändigen, wobei der Hiatus zwischen Vorstellung und Darstel-
lung bzw. Gestaltung mitgedacht wird. Das Reale als Referenzrahmen und als
Bezugsfeld von Diskursen, deren Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft sind, bleibt
einerseits verläßliche Instanz, indem es kognitive Garantien anbietet, ist aber ande-
rerseits stets von Attacken des Imaginären beunruhigt, deren Vehemenz das Fingie-
ren auffängt. In der erwähnten Studie „Akte des Fingierens“, die bereits explizit der
Ablösung der problematischen „Zweistelligkeit“ von Realem und Fiktivem gewid-
met ist, wird die Einführung des Imaginären so begründet: „Enthält der fiktionale
Text Reales, ohne sich in der Beschreibung dieses Realen zu erschöpfen, so hat seine
fiktive Komponente wiederum keinen Selbstzweckcharakter, sondern ist als fingier-
te die Zurüstung eines Imaginären“ (S. 121). Das Fiktive erscheint als Transformati-
onsstufe, die zugleich einer „Zwecksetzung“ (S. 123) dient, der Inszenierung des
Imaginären. Der Akt des Fingierens erscheint als „Grenzüberschreitung/.../ vom
Diffusen zum Bestimmten“ (S. 124), womit auch der leserrelevante Aspekt der Ent-
scheidung der Unbestimmtheitsstellen wieder auftaucht und den Akt des Fingierens
mit dem des Lesens abermals verschränkt.
Die einmal behandelten Themen und entsprechende Theoriebildungen wer-
den nie ‘abgelegt’, sondern im sich weiter ausfächernden Werk Isers immer wieder
aufgerufen und in neue komplexe Zusammenhänge gerückt. Das betrifft insbeson-
dere das Fingieren. Mit seinem Konzept der Anthropologie der Literatur, das die
Literatur gegen den Konkurrenzdruck der anderen Medien verteidigt, kommen
Isers These zum Fingieren erneut zur Geltung. Bereits in der zitierten Antrittsvor-
lesung vor der Akademie hat er die Frage nach der Notwendigkeit der Fiktion
gestellt und danach, „warum der Mensch ihrer bedürftig ist“, und zugleich die For-
derung aufgestellt, daß die Literaturwissenschaft solche Fragen zu beantworten habe,
weil erst durch sie „die anthropologische Dimension der Literatur erschließbar
wird“. Denn: „Offensichtlich läßt sich aus Literatur ein Wissen gewinnen, das nicht
falsifizierbar ist, das höchst verschiedenartige Auffassungen und Aneignungen zuläßt
und das sich doch insofern gleichbleibt, als es nie einen unverrückbaren Objektcha-
rakter annimmt“. Ausdrücklich hat er dann 1989 in seinem auf dem Wissenschafts-
forum Donaueschingen gehaltenen Vortrag die Problematik des Fingierens mit einer
anthropologischen Fragestellung verknüpft („Fingieren als anthropologische Dimen-
sion der Literatur“, erneut zugänglich in Positionen der Kulturanthropologie, hrsg.
A. Assmann, 2004, S. 21-43). Die Erforschung des Doppelspiels des Fingierens als
eines Spiels zwischen Lüge und deren Überschreitung öffnet den Blick auf das, was
Iser „die menschliche Fiktionsbedürftigkeit“ nennt. „Grenzüberschreitung“
erscheint als „Grundbedeutung von Fingieren“. Fiktionen fungieren „als Bedingun-
gen für das Herstellen von Welten, deren Realitätscharakter nicht zu bezweifeln ist“,