Wolfgang Iser | 179
heißt es unter Verweis auf Dieter Henrichs „Versuch über Fiktion und Wahrheit“
(in: Funktionen des Fiktiven, aaO.). Aber für das literarische Fingieren gilt auch, daß es
„sich als solches entblößt, was sich das Lügen nicht leisten kann“. Dem „Als-Ob“,
welchem es verpflichtet ist, setzt sich der Leser aus.
„Doppelung“ und „Grenzüberschreitung“, „Kipp-Phänomen“ sind Denk-
figuren, die im pointierteren Begriff des „Doppelsinns“ gebündelt sind. Nicht als
ontologisch, sondern als anthropologisch bestimmbar erscheint Fiktion, die aller-
dings kontextgebunden in unterschiedlichen Denkstrukturen auftaucht. Was aber ist
sie in der Dichtung? „Literarisches Fingieren hat die Struktur des Doppelsinns. Die-
ser ist eine Ermöglichung von Sinn und nicht schon em bestimmter Sinn“ - heißt
es hier, und die phänomenologische Spur der Ingardenschen Unbestimmtheitsstel-
len ist mitzulesen. Und weiter: „Verhüllendes Entschleiern ist die Form des Doppel-
sinns, der ständig etwas anderes sagt, als er meint, um dadurch etwas zu figurieren,
das das überschießt, was es ist“ (S. 31). Es geht um den „anthropologischen
Indexwert“, der auch für das gilt, was Iser als „Doppelgängertum des Menschen“
bezeichnet hat, wobei er sich auf die Sozialanthropologie von Helmut Plessner
bezieht. Und in Cornelius Castoriadis’ Diktum: „Der Mensch ist, was er nicht ist und
was nicht er ist“ sieht er die Formulierung eines Bestimmungsdefizits, das als solches
zur „Quelle des Fingierens“ wird: „so qualifiziert das Fingieren“ — schließt Iser an —
„wiederum das, was es ms Werk setzt: den schöpferischen Prozess sowie das Wozu
solcher Inszenierungen“. (S. 33)
Mit seinem anthropologischen Konzept des Fingierens gab Wolfgang Iser den
wesentlichen Anstoß für die Fragestellung und Theoriebildung eines mehrjährigen
Konstanzer SFB. Seme Abschiedsvorlesung im Jahre 1991 zu diesem Thema wurde
wie eine Art Vermächtnis aufgenommen. Viele der dort entwickelten Thesen wurden
adaptiert und waren für etliche Projekte wegweisend. Auch hier wie in früheren die
eigenen Ansätze reflektierenden Arbeiten wurde sein Interesse für die Fundierung
von Theorien und die Konstruktion von Methoden deutlich.
Während der Akt der Lesens als em Akt des Füllens, Auffüllens der Leerstellen,
der Bestimmung der Unbestimmtheiten konzipiert ist - eine Position, die den
großen ersten Abschnitt seines analytischen und theoretischen Schaffens ausmacht,
verfolgte Wolfgang Iser nach den Arbeiten zum Fiktiven und der anthropologisch
orientierten Theorie in der letzten Phase seines Schaffens die Spur des Verlöschens,
die Spur dessen, das in der Unbenanntheit verharrt, die zugleich auf Fragen der Ent-
stehung von ‘etwas’ verwies. Aber auch hier gab es entsprechend der erkennbaren
Beharrlichkeit seiner Theoriemotive Arbeiten der früheren Jahre, die auf diese Phase
vorausweisen, so etwa die Behandlung der Subjektivitätsproblematik bei Laurence
Sterne, die zur Untersuchung der Reduktionsformen von Subjektivität beiThacke-
ray, Compton-Burnett, Faulkner und Beckett führte. Es geht hier um das Phänomen
der Schwundstufen, des Vergehens, des Nichts, das die Frage nach der Entstehung
von Neuem, der Anfänge, des Einsetzens von Unvordenklichem provoziert. Emer-
genz war der Begriff, in dem die Fragen konzentriert waren, zu deren Klärung Phi-
losophie und Theorien naturwissenschaftlicher Disziplinen herangezogen wurden.
Es war ein Projekt, das Wolfgang Iser bei seinen trimestralen Aufenthalten an der
heißt es unter Verweis auf Dieter Henrichs „Versuch über Fiktion und Wahrheit“
(in: Funktionen des Fiktiven, aaO.). Aber für das literarische Fingieren gilt auch, daß es
„sich als solches entblößt, was sich das Lügen nicht leisten kann“. Dem „Als-Ob“,
welchem es verpflichtet ist, setzt sich der Leser aus.
„Doppelung“ und „Grenzüberschreitung“, „Kipp-Phänomen“ sind Denk-
figuren, die im pointierteren Begriff des „Doppelsinns“ gebündelt sind. Nicht als
ontologisch, sondern als anthropologisch bestimmbar erscheint Fiktion, die aller-
dings kontextgebunden in unterschiedlichen Denkstrukturen auftaucht. Was aber ist
sie in der Dichtung? „Literarisches Fingieren hat die Struktur des Doppelsinns. Die-
ser ist eine Ermöglichung von Sinn und nicht schon em bestimmter Sinn“ - heißt
es hier, und die phänomenologische Spur der Ingardenschen Unbestimmtheitsstel-
len ist mitzulesen. Und weiter: „Verhüllendes Entschleiern ist die Form des Doppel-
sinns, der ständig etwas anderes sagt, als er meint, um dadurch etwas zu figurieren,
das das überschießt, was es ist“ (S. 31). Es geht um den „anthropologischen
Indexwert“, der auch für das gilt, was Iser als „Doppelgängertum des Menschen“
bezeichnet hat, wobei er sich auf die Sozialanthropologie von Helmut Plessner
bezieht. Und in Cornelius Castoriadis’ Diktum: „Der Mensch ist, was er nicht ist und
was nicht er ist“ sieht er die Formulierung eines Bestimmungsdefizits, das als solches
zur „Quelle des Fingierens“ wird: „so qualifiziert das Fingieren“ — schließt Iser an —
„wiederum das, was es ms Werk setzt: den schöpferischen Prozess sowie das Wozu
solcher Inszenierungen“. (S. 33)
Mit seinem anthropologischen Konzept des Fingierens gab Wolfgang Iser den
wesentlichen Anstoß für die Fragestellung und Theoriebildung eines mehrjährigen
Konstanzer SFB. Seme Abschiedsvorlesung im Jahre 1991 zu diesem Thema wurde
wie eine Art Vermächtnis aufgenommen. Viele der dort entwickelten Thesen wurden
adaptiert und waren für etliche Projekte wegweisend. Auch hier wie in früheren die
eigenen Ansätze reflektierenden Arbeiten wurde sein Interesse für die Fundierung
von Theorien und die Konstruktion von Methoden deutlich.
Während der Akt der Lesens als em Akt des Füllens, Auffüllens der Leerstellen,
der Bestimmung der Unbestimmtheiten konzipiert ist - eine Position, die den
großen ersten Abschnitt seines analytischen und theoretischen Schaffens ausmacht,
verfolgte Wolfgang Iser nach den Arbeiten zum Fiktiven und der anthropologisch
orientierten Theorie in der letzten Phase seines Schaffens die Spur des Verlöschens,
die Spur dessen, das in der Unbenanntheit verharrt, die zugleich auf Fragen der Ent-
stehung von ‘etwas’ verwies. Aber auch hier gab es entsprechend der erkennbaren
Beharrlichkeit seiner Theoriemotive Arbeiten der früheren Jahre, die auf diese Phase
vorausweisen, so etwa die Behandlung der Subjektivitätsproblematik bei Laurence
Sterne, die zur Untersuchung der Reduktionsformen von Subjektivität beiThacke-
ray, Compton-Burnett, Faulkner und Beckett führte. Es geht hier um das Phänomen
der Schwundstufen, des Vergehens, des Nichts, das die Frage nach der Entstehung
von Neuem, der Anfänge, des Einsetzens von Unvordenklichem provoziert. Emer-
genz war der Begriff, in dem die Fragen konzentriert waren, zu deren Klärung Phi-
losophie und Theorien naturwissenschaftlicher Disziplinen herangezogen wurden.
Es war ein Projekt, das Wolfgang Iser bei seinen trimestralen Aufenthalten an der