Das WIN-Kolleg | 291
sozialstaatlichen Solidarität unter Staatsbürgern, sondern eines gemeinschaftsrecht-
lich begründeten Gleichbehandlungsanspruchs aufgrund einer wirtschaftlichen
Tätigkeit. Das Gemeinschaftsrecht gewährte also Teilhabe am Wohlfahrtsstaat nur als
Folge eines letztlich wirtschaftlich begründeten Gleichbehandlungsanspruchs. Das
soziale Europa ist damit jedenfalls in seiner Grundkonzeption kein sozialstaatliches
Europa.
Diese Verbindung von wirtschaftlicher Betätigung und damit verbundenen
Ansprüchen auf soziale Gleichbehandlung ist nun durch das Konzept der Unions-
bürgerschaft und die damit in Art. 18 EG verbundene Freizügigkeit infrage gestellt.
Nach dem EuGH ist die Unionsbürgerschaft dazu bestimmt, den grundlegenden
Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu bilden, die es denjenigen unter
ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer
Staatsangehörigkeit und unbeschadet der sonst ausdrücklich vorgesehenen Ausnah-
men die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen. Da die Unionsbürgerschaft ein
Aufenthaltsrecht unabhängig von einer Arbeitnehmereigenschaft gewährt, leitet der
EuGH daraus ab, dass auch unabhängig von einer Arbeitnehmereigenschaft
Ansprüche auf soziale Sicherung bestehen. Damit wird letztlich em sozialstaatlicher
Anspruch geschaffen. Die Rechtsprechung des EuGH fordert damit eine staatsbür-
gerliche Solidarität der Unionsbürger untereinander, die der geltende Vertrag eben-
so wenig explizit fordert wie der gescheiterte Verfassungsentwurf. Der deutsche
Sozialstaat wird durch die Rechtsprechung des EuGH somit gewissermaßen
europäisiert.
Zwar lässt sich ökonomisch noch keine Zuwanderung in die Sozialsysteme
besonders reicher Mitgliedstaaten belegen, allerdings stellt sich die prinzipielle Frage,
ob diese durch die Rechtsprechung des EuGH geforderte Gleichstellung von Sozial-
staat und sozialem Europa legitimiert ist.
Der historische Beitrag von Wolfgang Kretschmer und Dr. Petersson befasst
sich mit der Frage der überstaatlichen Solidarität in historischer Perspektive und
sucht nach Beispielen in der Vergangenheit. Ausgangspunkt ist dabei die Feststel-
lung, dass in der europaweiten Diskussion über die Ratifizierung des Verfassungs-
vertrages die große Bedeutung erkennbar geworden ist, die sozialen und wohl-
fahrtsstaatlichen Errungenschaften für die faktische Legitimation der Europäischen
Union zukommt. Vielerorts wird wieder darauf verwiesen, dass sich das Projekt
wohlfahrtsstaatlicher Daseinsfursorge und der Mobilisierung von Loyalität durch
Sozialintegration nur im Rahmen des Nationalstaats und der zumindest partiell
geschlossenen Volkswirtschaft verwirklichen lasse. Die Garantie wohlfahrtsstaat-
licher Leistungen erfordere eine territoriale Grenzziehung zwischen der Minder-
heit der Teilhabeberechtigten und der Mehrheit der von sozialen Leistungen
Ausgeschlossenen.
Diese nationalgesellschaftliche Sicht auf die Solidaritätsverpflichtung zwischen
Staat und Staatsbürger ist allerdings durch die Praxis der europäischen Integration
und die Rechtsprechung des EuGH inzwischen überholt. Aber auch in der Vergan-
genheit lässt sie sich keineswegs als das einzige auffindbare Modell bezeichnen — die
Begrenzung des Personenkreises, der in den Genuss wohlfahrtsstaatlicher oder son-
sozialstaatlichen Solidarität unter Staatsbürgern, sondern eines gemeinschaftsrecht-
lich begründeten Gleichbehandlungsanspruchs aufgrund einer wirtschaftlichen
Tätigkeit. Das Gemeinschaftsrecht gewährte also Teilhabe am Wohlfahrtsstaat nur als
Folge eines letztlich wirtschaftlich begründeten Gleichbehandlungsanspruchs. Das
soziale Europa ist damit jedenfalls in seiner Grundkonzeption kein sozialstaatliches
Europa.
Diese Verbindung von wirtschaftlicher Betätigung und damit verbundenen
Ansprüchen auf soziale Gleichbehandlung ist nun durch das Konzept der Unions-
bürgerschaft und die damit in Art. 18 EG verbundene Freizügigkeit infrage gestellt.
Nach dem EuGH ist die Unionsbürgerschaft dazu bestimmt, den grundlegenden
Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu bilden, die es denjenigen unter
ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer
Staatsangehörigkeit und unbeschadet der sonst ausdrücklich vorgesehenen Ausnah-
men die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen. Da die Unionsbürgerschaft ein
Aufenthaltsrecht unabhängig von einer Arbeitnehmereigenschaft gewährt, leitet der
EuGH daraus ab, dass auch unabhängig von einer Arbeitnehmereigenschaft
Ansprüche auf soziale Sicherung bestehen. Damit wird letztlich em sozialstaatlicher
Anspruch geschaffen. Die Rechtsprechung des EuGH fordert damit eine staatsbür-
gerliche Solidarität der Unionsbürger untereinander, die der geltende Vertrag eben-
so wenig explizit fordert wie der gescheiterte Verfassungsentwurf. Der deutsche
Sozialstaat wird durch die Rechtsprechung des EuGH somit gewissermaßen
europäisiert.
Zwar lässt sich ökonomisch noch keine Zuwanderung in die Sozialsysteme
besonders reicher Mitgliedstaaten belegen, allerdings stellt sich die prinzipielle Frage,
ob diese durch die Rechtsprechung des EuGH geforderte Gleichstellung von Sozial-
staat und sozialem Europa legitimiert ist.
Der historische Beitrag von Wolfgang Kretschmer und Dr. Petersson befasst
sich mit der Frage der überstaatlichen Solidarität in historischer Perspektive und
sucht nach Beispielen in der Vergangenheit. Ausgangspunkt ist dabei die Feststel-
lung, dass in der europaweiten Diskussion über die Ratifizierung des Verfassungs-
vertrages die große Bedeutung erkennbar geworden ist, die sozialen und wohl-
fahrtsstaatlichen Errungenschaften für die faktische Legitimation der Europäischen
Union zukommt. Vielerorts wird wieder darauf verwiesen, dass sich das Projekt
wohlfahrtsstaatlicher Daseinsfursorge und der Mobilisierung von Loyalität durch
Sozialintegration nur im Rahmen des Nationalstaats und der zumindest partiell
geschlossenen Volkswirtschaft verwirklichen lasse. Die Garantie wohlfahrtsstaat-
licher Leistungen erfordere eine territoriale Grenzziehung zwischen der Minder-
heit der Teilhabeberechtigten und der Mehrheit der von sozialen Leistungen
Ausgeschlossenen.
Diese nationalgesellschaftliche Sicht auf die Solidaritätsverpflichtung zwischen
Staat und Staatsbürger ist allerdings durch die Praxis der europäischen Integration
und die Rechtsprechung des EuGH inzwischen überholt. Aber auch in der Vergan-
genheit lässt sie sich keineswegs als das einzige auffindbare Modell bezeichnen — die
Begrenzung des Personenkreises, der in den Genuss wohlfahrtsstaatlicher oder son-