324 | FÖRDERUNG DES WISSENSCHAFTLICHEN NACHWUCHSES
meist gleichwertig ablösten, kommt ab 1800 den mittleren Wechseljahren eine
besondere Bedeutung zu: Sie markieren den Beginn des Alterns als subjektive Erfah-
rung und bilden als ‘gefährliches Alter’ eine Zäsur in der Selbst- und Fremdwahr-
nehmung. Die Erfindung des ‘gefährlichen Alters’, die mit dem vielfach übersetzten
dänischen Skandaltagebuch Den farlige alder (1910) von Karin Michaelis einen ersten
Flöhepunkt erreichte, hat ihren Ursprung in der literarischen Subjektivierung der
Alterserfahrung um 1800. Poetische Texte, die genaue Altersangaben im Titel fuhren
und eine abstrakte, kalendarische Zäsur als ‘kritisches Alter’ behandeln, erscheinen
erstmals im ausgehenden 18. Jahrhundert in der deutschen Eiteratur. Meist bezeich-
nen dabei die am volkstümlichen Modell der Lebenstreppe orientierten runden
Lebensjahre zwischen dem dritten und sechsten Jahrzehnt eine Schwelle, die als
Beginn des Alterns identifiziert wird. Hierzu gehört etwa Therese von Hubers
kleiner Roman Die Frau von vierzig Jahren (1800) und August von Kotzebues freie
Übertragung Der Mann von vierzig Jahren (1795) nach der Komödie La Pupille von
Barthelemy Christophe Fagan. Auf Kotzebues Titelinnovation bezieht sich auch
Goethe mit seiner Erzählung Der Mann von fünfzig Jahren (1807/08). Das Genre, das
vorläufig als ‘Alternserzählung’ bezeichnet werden kann, wurde vor allem in der
deutschen Literatur vielfach gestaltet und aktualisiert, bisher aber nicht vergleichend
untersucht.
Ausgehend von diesem Befund fragt das Teilprojekt, wie die rational-auf-
geklärte Vorstellung vom Altern als Reifungs- und Vollendungsprozess, die seit dem
18. Jahrhundert strukturell dominant war und maßgeblich auch das literarische
Muster des Entwicklungsromans bestimmte, in den Dichtungen vom kritischen Alter
konterkariert und modifiziert wird. Darüber hinaus untersucht die komparatistische
Studie neben den bekannten Mustern von Goethe und Balzac ein Korpus von
annähernd fünfzig Texten, die den Prozess des Alterns an einer krisenhaft erfahrenen
Alterszäsur darstellen, um nachzuzeichnen, wie in der Dichtung das ‘gefährliche
Alter’ als eigene, wenn auch historisch variable Lebensphase zwischen Selbstwahr-
nehmung und Rollenerwartung konstruiert wird. In den poetischen Texten, so die
Hypothese, werden dabei unterschiedliche Konzepte des Alterns so auf die Probe
gestellt, dass die Sinnstiftung des Alterungsprozesses angesichts einer als begrenzt
erfahrenen Lebenszeit als komplexe Konkurrenz anschaulich wird.
In der Anfangsphase des Projekts wurde das Textkorpus bibliographisch ver-
vollständigt, die zum Teil schwer zugänglichen Ausgaben wenig bekannter Autoren
beschafft und mit ihrer Auswertung begonnen. Dabei konzentriert sich die erste
Analyse der Texte darauf, wie das Altern narrativ reflektiert wird. Zurzeit wird das
Korpus auf die nicht deutschsprachige Literatur ausgeweitet, wobei sich abzeichnet,
dass die in Deutschland häufig verwendete Titelform „Die Frau/Der Mann von [...]
Jahren“ in der französischen Literatur selten (z.B. Honore de Balzac: La femme
de trente ans, Charles de Bernard: La femme de quarante ans) und in der englisch-
sprachigen kaum (Henry James The Diary of a Man ofFifty) vorkommt.Titel wie Mrs.
Dalloway von Virginia Woolf wurden oftmals mit der deutschen Übersetzung (Eine
Frau von fünfzig Jahren, Leipzig 1928) in die Tradition der Alternserzählungen
gerückt. Das Korpus ist inzwischen bibliographisch erschlossen, verschlagwortet und
meist gleichwertig ablösten, kommt ab 1800 den mittleren Wechseljahren eine
besondere Bedeutung zu: Sie markieren den Beginn des Alterns als subjektive Erfah-
rung und bilden als ‘gefährliches Alter’ eine Zäsur in der Selbst- und Fremdwahr-
nehmung. Die Erfindung des ‘gefährlichen Alters’, die mit dem vielfach übersetzten
dänischen Skandaltagebuch Den farlige alder (1910) von Karin Michaelis einen ersten
Flöhepunkt erreichte, hat ihren Ursprung in der literarischen Subjektivierung der
Alterserfahrung um 1800. Poetische Texte, die genaue Altersangaben im Titel fuhren
und eine abstrakte, kalendarische Zäsur als ‘kritisches Alter’ behandeln, erscheinen
erstmals im ausgehenden 18. Jahrhundert in der deutschen Eiteratur. Meist bezeich-
nen dabei die am volkstümlichen Modell der Lebenstreppe orientierten runden
Lebensjahre zwischen dem dritten und sechsten Jahrzehnt eine Schwelle, die als
Beginn des Alterns identifiziert wird. Hierzu gehört etwa Therese von Hubers
kleiner Roman Die Frau von vierzig Jahren (1800) und August von Kotzebues freie
Übertragung Der Mann von vierzig Jahren (1795) nach der Komödie La Pupille von
Barthelemy Christophe Fagan. Auf Kotzebues Titelinnovation bezieht sich auch
Goethe mit seiner Erzählung Der Mann von fünfzig Jahren (1807/08). Das Genre, das
vorläufig als ‘Alternserzählung’ bezeichnet werden kann, wurde vor allem in der
deutschen Literatur vielfach gestaltet und aktualisiert, bisher aber nicht vergleichend
untersucht.
Ausgehend von diesem Befund fragt das Teilprojekt, wie die rational-auf-
geklärte Vorstellung vom Altern als Reifungs- und Vollendungsprozess, die seit dem
18. Jahrhundert strukturell dominant war und maßgeblich auch das literarische
Muster des Entwicklungsromans bestimmte, in den Dichtungen vom kritischen Alter
konterkariert und modifiziert wird. Darüber hinaus untersucht die komparatistische
Studie neben den bekannten Mustern von Goethe und Balzac ein Korpus von
annähernd fünfzig Texten, die den Prozess des Alterns an einer krisenhaft erfahrenen
Alterszäsur darstellen, um nachzuzeichnen, wie in der Dichtung das ‘gefährliche
Alter’ als eigene, wenn auch historisch variable Lebensphase zwischen Selbstwahr-
nehmung und Rollenerwartung konstruiert wird. In den poetischen Texten, so die
Hypothese, werden dabei unterschiedliche Konzepte des Alterns so auf die Probe
gestellt, dass die Sinnstiftung des Alterungsprozesses angesichts einer als begrenzt
erfahrenen Lebenszeit als komplexe Konkurrenz anschaulich wird.
In der Anfangsphase des Projekts wurde das Textkorpus bibliographisch ver-
vollständigt, die zum Teil schwer zugänglichen Ausgaben wenig bekannter Autoren
beschafft und mit ihrer Auswertung begonnen. Dabei konzentriert sich die erste
Analyse der Texte darauf, wie das Altern narrativ reflektiert wird. Zurzeit wird das
Korpus auf die nicht deutschsprachige Literatur ausgeweitet, wobei sich abzeichnet,
dass die in Deutschland häufig verwendete Titelform „Die Frau/Der Mann von [...]
Jahren“ in der französischen Literatur selten (z.B. Honore de Balzac: La femme
de trente ans, Charles de Bernard: La femme de quarante ans) und in der englisch-
sprachigen kaum (Henry James The Diary of a Man ofFifty) vorkommt.Titel wie Mrs.
Dalloway von Virginia Woolf wurden oftmals mit der deutschen Übersetzung (Eine
Frau von fünfzig Jahren, Leipzig 1928) in die Tradition der Alternserzählungen
gerückt. Das Korpus ist inzwischen bibliographisch erschlossen, verschlagwortet und