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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2008 — 2009

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I. Das Geschäftsjahr 2008
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Jahresfeier am 14. Juni 2008
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Niehrs, Christof: Dialektik der embryonalen Induktion
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https://doi.org/10.11588/diglit.67591#0038
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14.Juni 2008

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Begriff Dialektik jedoch erst bei Hegel erlangt, der sie zu einer Universaltheorie
erhoben hat, einem Bewegungsgesetz des Lebens. Der Grundgedanke dieser Theo-
rie war, dass die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, son-
dern als ein System von Prozessen.
Um sich dieser Theorie zu nähern, ist es nützlich, sich nach Gadamer zu fra-
gen, wogegen sich die Dialektik wandte bzw. worauf sie eine Antwort war. Wie Karl
Popper in seinem Aufsatz „Was ist Dialektik?“ darlegt, ist sie eine Antwort auf den
Streit zwischen Rationalismus und Empirismus (Popper, 1968). Bei diesem Streit
geht es um die ehrwürdige Frage „Was ist Wahrheit?“ Die kartesianische, von Des-
cartes, Leibniz und Spinoza vertretene Antwort lautet, dass jene Ideen, die durch ihre
Klarheit, Deutlichkeit und Distinktheit die Vernunft ansprechen, die mithin evident
sind, die Wahrheit repräsentieren. Demzufolge können wir wissenschaftliche Theo-
rien ohne Rückgriff auf die Erfahrung allein mit Hilfe unserer Vernunft konstru-
ieren. Um mit Hegel zu sprechen: Was vernünftig ist, muss wirklich sein.
Im Gegensatz dazu behauptet der Empirismus, dessen berühmteste Repräsen-
tanten Bacon, Hobbes, Locke und Hume sind, dass die Erfahrung der Königsweg zur
Wahrheit ist. Wir benötigen das Experiment, den sinnlichen Eindruck, kurz das
Empirische, um Kenntnis über die Zusammenhänge der Welt zu erlangen.
Zwischen diesen beiden Gegensätzen, zwischen Vernunft und Sinnlichkeit ver-
mittelte Kant, der eine modifizierte Theorie des Empirismus vertrat, die wir mit sei-
nem berühmten Satz „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begrif-
fe sind blind“ zusammenfassen können. Nach Kants Kritik der reinen Vernunft ist
Erkenntnis auf das Gebiet der möglichen Erfahrung begrenzt; Denn mit der gleichen
scheinbaren Vernünftigkeit oder Evidenz ist es stets möglich zugunsten mehrerer z.
T. gegensätzlicher Theorien zu argumentieren. Ohne die Erfahrung haben wir
jedoch kein Wahrheitskriterium. Dies war eine Absage an die Metaphysik. Hegels
Theorie war der Versuch die Metaphysik zu retten. Er überwand Kants Kritik des
Rationalismus, indem er behauptete, Widersprüche seien nicht von Bedeutung, sie
seien vielmehr Ausdruck der Tatsache, dass das Denken nichts Abgeschlossenes ist,
sondern sich entwickelt. Während Kant gemäß alter Tradition den Widerspruch als
Kriterium der Logik zur Unterscheidung zwischen Wahr und Falsch anwendet,
erhebt Hegel den Widerspruch zu einem konstituierenden Element seiner Theorie.
Ein Grundgedanke Hegels besteht darin, dass unsere Anschauung der Wirk-
lichkeit unvollständig bleibt, wenn wir nicht jedes Element in allen seinen Bezie-
hungen zum Universum betrachten. Das Wesen eines Menschen konstituiert sich
auch durch seine Vorlieben und Abneigungen und so kann er ohne die Gegenstän-
de, die er schätzt oder ablehnt nicht der sein, der er ist. Seine Bestimmung ohne diese
äußeren Bezüge bleibt Fragment. Die Dialektik stellt diese Relationen her. Jede
höhere Stufe der Dialektik und damit der Erkenntnis trägt die vorhergehenden in
ihrem Widerspruch aufgelöst in sich. Wir würden heute sagen, die Dialektik ist eine
holistische Theorie.
Grob verkürzt und seiner metaphysischen Überhöhung beraubt kennen wir
diese Denkbewegung als dialektische Triade. Im ersten Schritt der Triade wird zu
einem Sachverhalt eine Theorie oder These aufgestellt. Diese Theorie hat gewisse
 
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