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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2009 — 2010

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I. Das Geschäftsjahr 2009
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Gesamtsitzung am 24. Januar 2009
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Welker, Michael: Die Anthropologie des Paulus als interdisziplinäre Kontakttheorie
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https://doi.org/10.11588/diglit.66333#0092
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SITZUNGEN

mag. Die Anthropologie des Paulus bietet eine Fülle erhellender und provokativer
komplexer Phänomenwahrnehmungen:
Sie ist provokativ und gesprächsfähig auf der Ebene der aggressiven Affirma-
tion einer rein biologischen Existenz in Formen des „selfish gene“ oder anspruchs-
vollerer naturalistischer Theorien, aber auch auf der Ebene der multimembralen
und multifunktionalen Existenz des Leibes. Sie liefert Denkanstöße, die psychoso-
matischen Phänomenzusammenhänge zu erschließen, die Paulus mit der Rede vom
Herzen chiffriert, die psychosoziale Verfassung des Gewissens zu diskutieren und
darüber nachzudenken, warum seines Erachtens Verstand/Vernunft nicht nur als reli-
gionskompatible Kräfte, sondern als Frömmigkeit und Religiosität fordernde Kapa-
zitäten anzusehen sind. Sie erstaunt in der kühlen Beurteilung der spirituellen Gott-
unmittelbarkeit ebenso wie mit der Wahrnehmung von Seele und Geist als auch
säkular bestimmbaren Größen.
Um in die theologischen Dimensionen dieses Denkens zu gelangen, müssen
die Interaktionen „im Geist“ zwischen Menschen, die natürlich direkt und indirekt
auch auf den einzelnen Menschen stark rückwirken, erschlossen werden. Die
Gefährdung und Stärkung durch von Menschen selbsterzeugte und von Gott zuge-
lassene und gegebene geistige Kräfte sind dann ins Auge zu fassen. Die Unterschei-
dung der Geister (1 Kor 12,10) wird zu einer lebenswichtigen Funktion, in der der
Geist Gottes in seiner belebenden, befreienden und erhebenden Kraft erkannt und
geschätzt werden muss. Wir müssten uns dann auf das große Gebiet der Christolo-
gie einlassen, da nach Paulus der Geist Gottes als der Geist Christi den Menschen
nahe kommt, für sie Klarheit gewinnt, sie umgibt und sie durchdringt.
In Taten der Liebe, Vergebung und der wechselseitigen Annahme werden sie
vom Geist dessen umgeben und durchdrungen, der durch Tischgemeinschaft, Hei-
lung, und durch seine an Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit orientierte
Verkündigung und Lehre unter den Menschen wirkte. Sie gewinnen aber auch am
Geist dessen Anteil, der durch die Verkündigung des kommenden Gottesreiches die
Kräfte des gewaltlosen Widerstands gegen die herrschende Weltmacht Rom und der
Transformation der religiösen Traditionen und Institutionen Israels unter ihnen
wirksam werden lässt. Das aber ist ein sehr viel weiteres Feld als das in sich schon
beträchtliche Gebiet der Anthropologie des Paulus. Auf dieses seit 2000 Jahren aus-
strahlungsstarke und weiterhin erkenntnisträchtige Gebiet wollte ich heute Ihre Auf-
merksamkeit und Ihr akademisches Interesse zu lenken suchen.
 
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