24. Januar 2009
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Begierden dem Fleisch dienen, sich gegen Umkehr sträuben und sich „in Arglosig-
keit“ verfuhren lassen (Röm 1,21; 1,24; 2,5; 16,18).
In all seiner möglichen Festigkeit und Energie ist das Herz als an den irdischen
Leib gebundenes Organ doch von der Melancholie der Endlichkeit angefochten:
„Auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, seufzen in unserem Her-
zen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne (Gottes)
offenbar werden ... So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir
wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch
für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können“ (Röm 23; 26f).
Die Erschließungskraft des Geistes manifestiert sich auch im menschlichen
Gewissen (syneidesis). Es handelt sich dabei nicht um eine in einfacher personaler
Selbstbeziehung zu verortende Instanz. Das Gewissen ist nach Paulus eine dynami-
sches, unruhiges und sensibles Forum der Selbstbeurteilung,12 ein sich beständig
auch im Blick auf die Mitmenschen irritierendes und befragendes Normbewusst-
sein, in dem sich „die Gedanken gegenseitig anklagen und verteidigen“ (Röm 2,15).
Die vom Geist Gottes ergriffenen und erfüllten Menschen, die ein differenziertes
Urteils- und Handlungsvermögen entwickeln, können sich einerseits durch die
Verbindung von subtilem Einfühlungsvermögen und Festigkeit der eigenen Über-
zeugung „dem Gewissen aller anderen Menschen empfehlen“ (2 Kor 4,2). Sie sind
andererseits zu taktvollem Umgang mit den Mitmenschen aufgefordert, die die
Freiheit des Glaubens und ihr traditionsbestimmtes Normbewusstsein in ihrem
„schwachen Gewissen“ nicht miteinander vermitteln können (vgl. Röm 14).13 Im
Gewissen konzentrieren sich im Individuum die kognitiven und normativen Ver-
mittlungsprozesse zwischen vielgliedriger Komplexität und geistiger Kohärenz, die
Paulus im Blick auf den Leib und den Geist vor Augen stehen. Sowohl im Gespräch
mit Psychologie und Philosophie als auch im Kontakt mit Sozialanthropologien soll-
ten Versuche unternommen werden, die Phänomenzusammenhänge in heutigen
Forschungskontexten zu identifizieren, die Paulus mit seiner Rede von kardia und
syneidesis benennt.
IV Menschlicher Geist und Gottes Geist
Ich habe heute die Anthropologie des Paulus unter weitgehender Abstraktion von
seiner Theologie dargestellt. Es war mein Anliegen, zu zeigen, dass er eine vieldi-
mensionale Lehre vom Menschen und seinen leiblichen und geistigen Vermögen
entwickelt, die monistischen, dualen und dualistischen Reduktionismen und Verzer-
rungen in klassischen und zeitgenössischen Anthropologien entgegenzuwirken ver-
12 Und nur indirekt eine „Instanz“, vgl. Schnelle, Paulus, 606—609; Hans-Joachim Eckstein, Synei-
desis bei Paulus, WUNT 2.10, Mohr: Tübingen 1983, 242f.
13 Zu den entsprechenden moralischen Kommunikationsprozessen s. Michael Welker, Kirche ohne
Kurs?, Neukirchener Verlag: Neukirchen 1987, 55-62.
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Begierden dem Fleisch dienen, sich gegen Umkehr sträuben und sich „in Arglosig-
keit“ verfuhren lassen (Röm 1,21; 1,24; 2,5; 16,18).
In all seiner möglichen Festigkeit und Energie ist das Herz als an den irdischen
Leib gebundenes Organ doch von der Melancholie der Endlichkeit angefochten:
„Auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, seufzen in unserem Her-
zen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne (Gottes)
offenbar werden ... So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir
wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch
für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können“ (Röm 23; 26f).
Die Erschließungskraft des Geistes manifestiert sich auch im menschlichen
Gewissen (syneidesis). Es handelt sich dabei nicht um eine in einfacher personaler
Selbstbeziehung zu verortende Instanz. Das Gewissen ist nach Paulus eine dynami-
sches, unruhiges und sensibles Forum der Selbstbeurteilung,12 ein sich beständig
auch im Blick auf die Mitmenschen irritierendes und befragendes Normbewusst-
sein, in dem sich „die Gedanken gegenseitig anklagen und verteidigen“ (Röm 2,15).
Die vom Geist Gottes ergriffenen und erfüllten Menschen, die ein differenziertes
Urteils- und Handlungsvermögen entwickeln, können sich einerseits durch die
Verbindung von subtilem Einfühlungsvermögen und Festigkeit der eigenen Über-
zeugung „dem Gewissen aller anderen Menschen empfehlen“ (2 Kor 4,2). Sie sind
andererseits zu taktvollem Umgang mit den Mitmenschen aufgefordert, die die
Freiheit des Glaubens und ihr traditionsbestimmtes Normbewusstsein in ihrem
„schwachen Gewissen“ nicht miteinander vermitteln können (vgl. Röm 14).13 Im
Gewissen konzentrieren sich im Individuum die kognitiven und normativen Ver-
mittlungsprozesse zwischen vielgliedriger Komplexität und geistiger Kohärenz, die
Paulus im Blick auf den Leib und den Geist vor Augen stehen. Sowohl im Gespräch
mit Psychologie und Philosophie als auch im Kontakt mit Sozialanthropologien soll-
ten Versuche unternommen werden, die Phänomenzusammenhänge in heutigen
Forschungskontexten zu identifizieren, die Paulus mit seiner Rede von kardia und
syneidesis benennt.
IV Menschlicher Geist und Gottes Geist
Ich habe heute die Anthropologie des Paulus unter weitgehender Abstraktion von
seiner Theologie dargestellt. Es war mein Anliegen, zu zeigen, dass er eine vieldi-
mensionale Lehre vom Menschen und seinen leiblichen und geistigen Vermögen
entwickelt, die monistischen, dualen und dualistischen Reduktionismen und Verzer-
rungen in klassischen und zeitgenössischen Anthropologien entgegenzuwirken ver-
12 Und nur indirekt eine „Instanz“, vgl. Schnelle, Paulus, 606—609; Hans-Joachim Eckstein, Synei-
desis bei Paulus, WUNT 2.10, Mohr: Tübingen 1983, 242f.
13 Zu den entsprechenden moralischen Kommunikationsprozessen s. Michael Welker, Kirche ohne
Kurs?, Neukirchener Verlag: Neukirchen 1987, 55-62.