420 | VERANSTALTUNGEN
VORTRAGSABEND
IN DER LANDESVERTRETUNG BADEN-WÜRTTEMBERG IN BERLIN
„Föderalismuskonzeptionen in Deutschland.
Wandel und Kontinuität seit dem 19.Jahrhundert.“
26. November 2009
Im 19. Jahrhundert beurteilte man den Föderalismus anders als im zwanzigsten, und
zu keiner Zeit beurteilte man ihn einhellig. Unter den Freunden finden sich Demo-
kraten und Antidemokraten. Und nicht anders auf Seiten der Zentralisten. Sie waren
jedoch zu allen Zeiten radikaler in ihrem Willen zur Veränderung als die Föderali-
sten. Das kann angesichts der deutschen Geschichte nicht verwundern. Erst das Hei-
lige Römische Reich Deutscher Nation mit seinen vielen Territorien von höchst
unterschiedlichem staatlichen Gewicht, dann der Deutsche Bund, nicht mehr so
vielgliedrig, aber immer noch vielstaatlich, schließlich die beiden föderativen Natio-
nalstaaten, zunächst der kurzlebige von 1848/49, dann der von 1871. Wer aus dieser
staatenbündisch-föderativen deutschen Tradition aussteigen wollte, mußte zu radika-
len Mitteln greifen. Ein deutscher Nationalstaat war anders nicht zu haben; je zen-
tralistischer, desto mehr Gewalt war erforderlich.
Der radikale Flügel der Demokraten der 1848er-Revolution forderte eine
zentralstaatliche tabula rasa, weil er die Fürstenstaaten nicht für demokratisierbar
hielt: der Zentralstaat als Demokratisierungshebel. Eine realistische Chance, den
deutschen Nationalstaat als zentralistische Republik revolutionär zu erschaffen,
bestand 1848 allerdings nicht. Die meisten Demokraten hatten 1848, wie die Revo-
lution insgesamt, vor den Thronen halt gemacht, und damit auch vor den Einzel-
staaten. Eine der wirkungsmächtigsten Grundentscheidungen dieser Revolution!
Der revolutionär erzwungene deutsche Gesamtstaat mit kaiserlichem Haupt konnte
ein Staatenbund werden oder ein Bundesstaat, nicht aber ein Zentralstaat.
Der kleine radikalrepublikanische Flügel der Demokraten hat zentralistisch
gedacht, zentralistisch gehandelt haben, wo immer es ihnen möglich war, die fürstli-
chen Landesherren. Sie erwiesen sich als die wahren Zentralisierer des 19. Jahrhun-
derts, nicht die Parlamente und Parteien. Es begann im frühen 19. Jahrhundert, als
mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation der institu-
tionelle Schutzschirm über den kleinen und mittleren Staaten entfiel. Es war die
große Zeit der feindlichen Übernahmen in Deutschland unter seinen Fürsten; ein
mächtiger Schub an staatlicher Verdichtung in Europa, eine Art Entföderalisierung
im Raum des Alten Reiches. Wie man dieses Geschehen beurteilt, hängt von den
Perspektiven ab, mit denen man die geschichtliche Entwicklung bewertet. Der
Nationalstaat — Katastrophe der Kleinen oder Höhepunkt nationaler Geschichte: ein
geschichtspolitischer Deutungskampf. Historiker können ihn nicht rückblickend
entscheiden. Aufschlußreicher ist es, zu fragen, warum so unterschiedlich über die
Geschichte und ihre Entwicklungsmöglichkeiten geurteilt wurde und wird, und wie
sich diese Urteile immer wieder verändern.
VORTRAGSABEND
IN DER LANDESVERTRETUNG BADEN-WÜRTTEMBERG IN BERLIN
„Föderalismuskonzeptionen in Deutschland.
Wandel und Kontinuität seit dem 19.Jahrhundert.“
26. November 2009
Im 19. Jahrhundert beurteilte man den Föderalismus anders als im zwanzigsten, und
zu keiner Zeit beurteilte man ihn einhellig. Unter den Freunden finden sich Demo-
kraten und Antidemokraten. Und nicht anders auf Seiten der Zentralisten. Sie waren
jedoch zu allen Zeiten radikaler in ihrem Willen zur Veränderung als die Föderali-
sten. Das kann angesichts der deutschen Geschichte nicht verwundern. Erst das Hei-
lige Römische Reich Deutscher Nation mit seinen vielen Territorien von höchst
unterschiedlichem staatlichen Gewicht, dann der Deutsche Bund, nicht mehr so
vielgliedrig, aber immer noch vielstaatlich, schließlich die beiden föderativen Natio-
nalstaaten, zunächst der kurzlebige von 1848/49, dann der von 1871. Wer aus dieser
staatenbündisch-föderativen deutschen Tradition aussteigen wollte, mußte zu radika-
len Mitteln greifen. Ein deutscher Nationalstaat war anders nicht zu haben; je zen-
tralistischer, desto mehr Gewalt war erforderlich.
Der radikale Flügel der Demokraten der 1848er-Revolution forderte eine
zentralstaatliche tabula rasa, weil er die Fürstenstaaten nicht für demokratisierbar
hielt: der Zentralstaat als Demokratisierungshebel. Eine realistische Chance, den
deutschen Nationalstaat als zentralistische Republik revolutionär zu erschaffen,
bestand 1848 allerdings nicht. Die meisten Demokraten hatten 1848, wie die Revo-
lution insgesamt, vor den Thronen halt gemacht, und damit auch vor den Einzel-
staaten. Eine der wirkungsmächtigsten Grundentscheidungen dieser Revolution!
Der revolutionär erzwungene deutsche Gesamtstaat mit kaiserlichem Haupt konnte
ein Staatenbund werden oder ein Bundesstaat, nicht aber ein Zentralstaat.
Der kleine radikalrepublikanische Flügel der Demokraten hat zentralistisch
gedacht, zentralistisch gehandelt haben, wo immer es ihnen möglich war, die fürstli-
chen Landesherren. Sie erwiesen sich als die wahren Zentralisierer des 19. Jahrhun-
derts, nicht die Parlamente und Parteien. Es begann im frühen 19. Jahrhundert, als
mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation der institu-
tionelle Schutzschirm über den kleinen und mittleren Staaten entfiel. Es war die
große Zeit der feindlichen Übernahmen in Deutschland unter seinen Fürsten; ein
mächtiger Schub an staatlicher Verdichtung in Europa, eine Art Entföderalisierung
im Raum des Alten Reiches. Wie man dieses Geschehen beurteilt, hängt von den
Perspektiven ab, mit denen man die geschichtliche Entwicklung bewertet. Der
Nationalstaat — Katastrophe der Kleinen oder Höhepunkt nationaler Geschichte: ein
geschichtspolitischer Deutungskampf. Historiker können ihn nicht rückblickend
entscheiden. Aufschlußreicher ist es, zu fragen, warum so unterschiedlich über die
Geschichte und ihre Entwicklungsmöglichkeiten geurteilt wurde und wird, und wie
sich diese Urteile immer wieder verändern.